Der Krieg ist eine Sache des Alters. Jetzt zumin¬
dest. Als er geführt wurde, war er eine Sache der
Jugend. Als der Krieg vorbei und die Soldaten
geschlagen waren, zogen sie sich zurück in das
Schweigen, das war ein Keller, ein Haus, eine
Burg, auf alle Fälle eine Familie. Die Kinder
fanden zu den Heimkehrern keinen Weg und
keinen Schlüssel für dieses Schweigen, sie fanden
keinen Weg Fragen zu stellen, die ein Erzählen
ermöglicht hätten. Wer die Jugend überlebt hat,
hat vielleicht das Glück, eine neue Generation
zur erleben oder die Wandlung der Söhne und
Töchter. Ein Glück? Da im Alter die Erinnerun¬
gen regieren und der Alltag in den Hintergrund
tritt, kann eine beständig gestellte Frage auch
eine Tür in eine Freiheit bedeuten.
Anna Mitgutschs Roman heißt Die Annähe¬
rung und handelt vom Schweigen, vom Alter,
vom Unverständnis und vom Krieg, Dies dürfte
auch die richtige Reihenfolge des Auftretens
dieser Phänomene sein, die den Alltag der Fa¬
milie beherrschen. Das Schweigen und das Alter
sind die Gegenwart, das Unverständnis war die
Vergangenheit, und der Fluchtpunkt von allem
war der Krieg. Das Schweigen heißt Theo, das
Unverständnis seine Tochter Frieda und die An¬
näherung die Pflegerin des 96-Jährigen, die aus
der Ukraine kommt.
Wie viel darf von einem Roman verraten wer¬
den, ohne geschwätzig zu sein und ohne der
Leserin und dem Leser alles zu verraten und die
Möglichkeit zu belassen, die Geschichte selbst
für sich zu entdecken und vielleicht auch über¬
rascht zu werden? Mit dieser Kurzbeschreibung
ist alles gesagt und es bleibt genügend Freiraum.
Doch reicht dies auch aus, um diesem Roman
gerecht zu werden, um das Bemühen der Au¬
torin gehörig zu würdigen? Sicherlich nicht,
denn Anna Mitgutsch ist mit diesen 400 Seiten
etwas Besonderes geglückt, sie hat versucht eine
Brücke zu schlagen, stellvertretend für eine ganze
Generation. Weil es stellvertretender versuch¬
ter Brückenschlag ist, ist es nur eine papierene
Brücke, aber diese ist umso tragfähiger, denn sie
widersteht allem, auch dem Vergessen. Wie sagt
Theo, eingesponnen in seinem Alltag zwischen
Träumen und dem Ungewissen, das ihn noch
erwartet: „Mit mir ist dann alles vergessen“. Brü¬
cken könnten von zwei Seiten begangen werden,
um zum anderen Ufer zu gelangen oder um
dann von der anderen Seite auf das Gegenüber
blicken zu können. Anna Mitgutsch wechselt
die Seiten und schlüpft in die Rolle der Frieda,
die sich von ihrem Vater nicht geliebt fühlt und
ihn als Historikerin mit ihrem Wissen über die
Realität der NS-Zeit und vor allem des Krie¬
ges konfrontiert hat. Frieda hat ein Gespräch
eingefordert, das Iheo nicht imstande war zu
führen und für das sie
auch nicht das Gehör
für die Zwischentöne
gehabt hätte.
Das
über das, was war, fin¬
det nie im luftleeren
Raum statt, sondern
braucht einen Nähr¬
boden, der bietet sich
in einer Familie mit
den entsprechenden
Minenfeldern und
Kleinkriegen, eben
im Alltag nach dem
Krieg. Und da ist dann
noch das Altern, das
so gefährlich ist wie
das Sprechen über
den Krieg. Wie es
Mitgutsch gelingt, in
die Tagträume Theos
zu schlüpfen, das ist große Kunst, das ist Huma¬
nismus jenseits von Besserwisserei, das berührt
und bereitet jede und jeden von uns auf das
vor, was sie und ihn noch erwartet, unabhängig
davon, ob es einen Krieg gegeben hat. Wären es
nur die zwei Personen, die versuchen, sich auf
den Weg zur und über die Brücke zu machen,
es wäre schon ein reger Grenzverkehr, aber in
der Familie von Iheo und Frieda gibt es noch
die erste verstorbene Frau Wilma und die zwei¬
te Frau Berta, jede ist mit einem großen oder
kleinen Keller ausgestattet, zu dem es keinen
Schlüssel gibt und in dem die Wünsche und
Hoffnungen, aber auch die Kränkungen warten,
erlöst zu werden. Niemand hat Schuld und nie¬
mand hat recht, einzig das Bestreben, sich mit
der Frage nach dem was war zu konfrontieren,
dies ist der Leitstern über allem, es fragt sich
nur wie diesem Leitstern gefolgt wird, in einem
Kreuzzug oder einem Pilgerzug — oder gibt es
eine dritte Möglichkeit?
Anna Mitgutsch schafft es, sich nicht zwischen
diesen beiden Versuchungen, der Wahrheit
habhaft zu werden, zu entscheiden, denn sie
zeichnet die Menschen so scharf und klar, dass
während des Lesens der Eindruck entstehen
kann, von den eigenen Eltern oder Verwandten
zu hören. Warum ist es aber nur ein versuchter
Brückenschlag? Weil es keine Lösung gibt, auch
dann nicht, als Frieda das Kriegstagebuch des
Vaters bekommt und sich mit Edgar auf eine
Reise in die Ukraine begibt. Bis zu diesem Zeit¬
punkt scheint ein Gang über die Brücke, eine
Begegnung noch möglich, doch es gibt keinen
Frieden, auch wenn der Krieg schon Jahrzehnte
vorüber ist.
oder gab es in jeder Familie. Mitgutsch deutet
dies alleine schon durch die Tatsache an, dass
alle Personen nur über Vornamen verfügen, und
es gibt eben viele Theos, viele Friedas und viele
Bertas. Und dann wire da noch der Raum, in
dem alles angesiedelt ist. Die Geschichte spielt
nicht im luftleeren Raum, die Beschreibungen
sind detailliert, aber doch so vage, dass man fast
meint, alles sei in einem Zwischenreich ange¬
siedelt, nur ein Mal wird Österreich erwähnt,
als es darum geht, ob Ludmilla überhaupt eine
Arbeitsbewilligung hat oder nur mit einem Tou¬
ristenvisum den alten Theo pflegt, fast wie ein
Versehen wirkt diese Nennung, und ein Mal
wird Penzing erwähnt, wohin Theo ins Lazarett
kommt. Diese geographische Unbestimmtheit
schafft eine Schärfe, die diese Geschichte eben
überall spielen lassen kann, in Österreich wie
in Deutschland.
Mitgutsch ist eine Humanistin, aber mutet
ihren Leserinnen und Lesern einen schonungslo¬
sen Pessimismus zu. Das Schweigen kann nicht
überbrückt werden, während Frieda zumindest
wieder Kontakt zu ihrer Tochter findet, bleibt
Theo nur das große Dunkel, die Entmündi¬
gung. Das schmerzt so wie die Besserwisserei
Friedas. Es ist eben doch nur eine Annäherung.
Ein großes Buch, würdig für einen großen Preis,
welcher immer das auch sein möge.
Anna Mitgutsch: Die Annäherung. Roman. Mün¬
chen: Luchterhand 2016. 441 5. € 23,70