Der Satz, beginnend mit „Es ist ein Skandal“
ist schön. Schön formuliert wie auch schön in
dem, was er mitteilen will; halb Selbstbehaup¬
tung, halb Trost für jeden. Und er ist auch wahr,
wahr in der Hinsicht, dass ihm zu widersprechen
zwar möglich, aber eigentlich dumm wäre. Denn
ob es nun tatsächlich stimmt, also richtig ist, dass
wir nicht identisch sind mit der Zeit, in der wir
leben (schließlich sind wir von ihr geprägt und
können uns manchmal nicht dem entziehen,
was in ihr geschieht; und mit ihr identisch zu
sein, besitzt, bei aller Verlegenheit, auch eine
gewisse Notwendigkeit — denn nur dadurch
können wir auch an unserem eigenen Beispiel
begreifen, wie sehr der Zeitgeist Gestalter und
nicht nur Gemachtes ist; dies eine Form des
Reflektierens, die auch Gauß in hohem Maße
beherrscht und einfließen lässt), so ist es doch
sehr wünschenswert, notwendig und richtig,
dass jeder einzelne sich so oft wie möglich so
fühlen möge und diese Position zur Welt ein¬
nimmt, um sich das zu bewahren, was er ist.
Der Dichter Joseph Brodsky schrieb einmal in
einem Essay zu W. H. Auden:
Falls die Menschen überhaupt eine Chance ha¬
ben, etwas anderes als Opfer oder Schurken ihrer
Zeit zu werden, besteht sie in der prompten Reak¬
tion auf die Schlusszeilen von Rilkes Archaischem
Torso Apollos
... denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern.
Und derselbe Joseph Brodsky sagte in seiner
Nobelpreisrede:
Der große Baratynskij charakterisierte seine
Muse, indem er ihr ein „unverwechselbares Ge¬
sicht“ andichtete. Im Erwerb dieses unverwech¬
selbaren Gesichts liegt der Sinn der menschlichen
Existenz, denn für dieses Unverwechselbare hat die
Natur den Menschen genetisch vorprogrammiert.
Unabhängig davon, ob einer Leser oder Schrifistel¬
ler ist, hat er zu allererst die Pflicht, ein Leben zu
meistern, das nur ihm gehört, und das ihm nicht
aufoktroyiert oder von außen vorgeschrieben wor¬
den ist, auch wenn es noch so glänzend erscheint.
Denn jeder von uns hat nur dieses eine Leben, und
wir wissen nur zu gut, wie es ausgehen wird. Es
wäre deshalb unverzeihlich, die einmalige Chance
zu vergeuden, um [stattdessen] in eine andere Rolle
zu schlüpfen, fremde Erfahrungen zu übernehmen
und quasi als Tautologie zu leben.
Das unverwechselbare Gesicht ist die Mög¬
lichkeit des Menschen, nicht nur ein Bewohner
dieser Welt zu sein, sondern auch ein Bewohner
von sich selbst. Etwas, das Gauß niederschreibt
und in diesem Satz wunderbar zu behaupten
weiß.
Erfüllt dich womöglich weniger Sympathie für
die Bettler als Verachtung ihrer Feinde? (Seite 252)
Eine Frage, die auch ich nicht aufhören kann
zu stellen (leicht abgewandelt allerdings), aller¬
dings häufig, weil ich ihrer Anwesenheit so für
eine Weile aus dem Weg gehen kann. Es ist eine
Frage, die Koketterie enthält, vielleicht sogar ein
bisschen zu viel davon.
Gauß berichtet in einem Abschnitt von den
Bettlern in Salzburg und wie sie mit der Zeit
aus dem Stadtbild verschwanden, weil es im¬
mer stärkere Restriktionen gegen sie gab. Wie
er sich empörte. Wie er einmal selbst eine eigene
schlechte Erfahrung machte, die ihn nicht von
seinen generellen Überzeugungen abbrachte,
ihn aber letztlich zu dieser Frage führte, mit
der viele Intellektuelle konfrontiert sind: was
tue ich, wenn ich mich nicht mehr mit der
abstrakten Ungerechtigkeit, sondern mit dem
Objekt meines Engagements konfrontiert sähe.
Nicht der Tod aller Ideale, gewiss, aber es führt
zu der Frage, die Gauß in den Raum stellt und
die eine sehr lange Stille nach sich zieht, die er
selbst leider auch nicht füllt. Oder die nicht
gefüllt werden kann.
Vermutlich bin ich also ausgerechnet in der Li¬
teratur wieder mal dem Leben selbst begegnet.
(Seite 114)
Eine Empfindung, die ich immer wieder zu
erhaschen suche, die mich anhebt, wann immer
ich ein großartiges Buch lese und für die ich
doch keinen Ausdruck finden konnte: sie liegt
in dieser Formulierung, zwar nicht ganz offen zu
Tage tretend, aber sicher verwahrt. Fast weiß ich
nicht, was ich noch dazu sagen soll. Fast will ich
nur sagen: ja, so geschieht es. Man liest ein Buch
und dann schlägt es mit einer Sprache so einen
Bogen, dass ein Wunder geschieht und die Lite¬
ratur ins Leben hineinführt, obwohl sie eigent¬
lich nur darauf verweist. In diesem Phänomen
erahne ich mein ganzes Engagement fürs Sch¬
reiben: weil es möglich ist mit Literatur für das
Leben da zu sein, als wäre es ein guter Freund,
etwas das man erhalten, dem man gerecht wer¬
den will. Eine Idee, in der verteidigt wird, was
in der nichtformulierten, sondern unausweich¬
lichen, direkten Wirklichkeit nur schwer zu ver¬
teidigen ist, da es uns dort selbstverständlich
und unerschöpflich scheint, während Literatur
dort ansetzt, wo dem Schönen, das wir erlebt
haben, in einem anderen Zusammenhang noch
mal Bedeutung widerfährt, Bedeutung, die aufs
individuelle Empfinden abzielt, nicht auf eine
Markierung, eine Sortierung, eine Abstraktion
oder Zusammenfassung der Wirklichkeit. Ein
letztes Mal Brodsky:
Als moralische Rückversicherung ist die Litera¬
tur zuverlässiger als ein Glaubenssystem oder eine
philosophische Doktrin. [...] Ich möchte hinzu¬
fügen, dass ich davon überzeugt bin - leider nicht
empirisch, nur theoretisch — dass es für einen, der
Charles Dickens gelesen hat, problematischer ist,
seine Mitmenschen im Namen einer Idee zu tö¬
ten, als für einen anderen, der nichts von Charles
Dickens gelesen hat. [...] Wer die Metaphysik
eines individuellen Dramas begreifi, hat größere
Chancen, dem Drama der Geschichte zu trotzen.
Siehe, mit jedem unscheinbaren Ding kommt
eine ganze Welt ins Haus herein. (Seite 310)
Einer der inspirierendsten Abschnitte des Bu¬
ches beschäftigt sich mit Alltagsgegenständen
und dem seltsamen Blickwinkel, den wir auf sie
haben, da wir eigentlich nur ihre Beschaffenheit
kennen und nicht ihre Geschichte (es sei denn
sie ist eng mit unserer eigenen verknüpft). Schon
die Beschaffenheit könnte Ausgangspunkt für
vielerlei Arten von Texten sein, aber die „ganze
Welt“, die ein Gegenstand mit ins Haus bringt,
ist nicht allein zu reduzieren auf das Äußere,
auch nicht auf den politischen Aspekt (was Her¬
kunft, Herstellungsbedingungen und Zustände
im Land allgemein angeht), sondern ist bedingt
von einer Phänomenologie, die dort entspringt,
wo man beginnt, ein Ding als eine eigene Ge¬
wissheit, eine ganz besondere Ausrichtung zur
Welt zu begreifen.
Dieser Satz, er ist einer dieser kleinen Hinwei¬
se, die ich immer wieder dankend annehme, weil
ich sofort das Gefühl habe, sie verhindern, dass
ich mich der Welt entfremde (deswegen lese ich
auch wiederum, siehe oben) und unaufmerksam
gegenüber dem werde, was der Ursprung meines
eigenen Daseins ist: ein Phänomen, das sich aus
Wahrnehmung, Materie, Gefühlen und Hand¬
lungen zusammensetzt und Leben heißt. Dazu
kann man Gauß selbst noch einmal zitieren,
wenn er zu Paul Valerys Cahiers, die dieser im
Verlauf von 50 Jahren täglich niederschrieb, um
seine Gehirnwiese abzugrasen:
Der Mann glaubte, ein Rätsel lösen zu wollen,
aber vielmehr geht es für ihn wie für uns darum,
das Leben wieder als Geheimnis zu entdecken und
die Welt als jenes Wunder zu erfahren, von dem
wir vergessen haben, dass es eines ist. (Seite 66)
Dem ist nichts hinzuzufügen.
Timo Brandt
Karl Markus Gauß: Der Alltag der Welt. 336
Seiten, geb., Wien: Zsolnay Verlag, 2015. € 23,60
Das Neue am Zweiten Weltkrieg und der Shoah
besteht auch darin, daß niemand mehr wie in
früheren Zeiten an der Geschichte vorbeileben
kann. Nebenbei gesagt, verliert dadurch auch
die Vorstellung eines Engagements in Literatur
und Kunst an Bedeutung: Es ist einfach nichts
Besonderes mehr. Alle sind in diesen Strudel
gezogen, ob sie sich nun verantwortlich oder
„betroffen“ fühlen oder nicht. Zugleich sind sie
aber durch die Gewalt des kulturellen Bruchs
aus der Geschichte hinausgestoßen und mit ih¬
ren endemischen Ängsten auf als gegenwärtig
erscheinende Katastrophen verwiesen, deren
komplementäre Ergänzung das unbefriedigt
fortgehende Beschnüffeln der eigenen Befind¬
lichkeit ist. Verkörpert sich die Volksgemein¬
schaft in dieser Hinsicht als Auflösung in der
Individualisierung des Unbehagens, das als Un¬
erträglichkeit brandmarkt, was nicht begreiflich
sein soll, scheint in jener anderen Hinsicht die
bewußtlose Lehre aus dem Geschehenen Wirk¬
lichkeit geworden, nämlich als ein Bedürfnis der
Distanzierung, das eifrig an allen Vorkommen¬
heiten geübt wird.