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Ein Irrgarten ist ein Gestaltungselement, ursprünglich aus der Gartenkunst. Mit der Gartenkunst hat dieses Buch aber wenig zu tun. Wohl aber mit dem Irrgarten. Laut Definition täuscht der Irrgarten durch seine Unübersichtlichkeit den Orientierungssinn des Besuchers, ursprünglich zu dessen Vergnügen. Die verzweigten Wege verleiten absichtlich zum Verirren. Doch das Vergnügen des Besuchers kann sich in Ungeduld, Beunruhigung, ja, sogar in Angst wandeln. Die Anlage eines Irrgartens besteht herkömmlich, also in der Gartenkunst, aus einem engmaschigen System überkopfhoher und blickdichter Hecken und besitzt einen Zielplatz. Das Vergnügen wandelt sich in Unbehagen, wenn der Besucher fürchtet, er könne im engmaschigen System aus überkopfhohen (das heißt: ein Überblick der gesamten Lage ist nicht möglich) Hecken gefangen sein und den Zielplatz nicht, oder nur schwer, erreichen. Ersetzen wir das Wort „Hecken“ hier durch „Gegebenheiten, Sichtweisen“... In Nahöstlicher Irrgarten. Analysen abseits des Mainstreams mit einem völlig neuen Kapitel über die Terrormiliz Islamischer Staat analysiert die Journalistin und Nahostexpertin Gudrun Harrer in sehr kompakt geschriebenen Kapiteln die in den letzten Jahren aufgebrochenen Konflikte im Nahen Osten und erörtert die Hintergründe dieser Konflikte. Da ist der Finger auf der Wunde, aber wie ein gewissenhafter Arzt möchte die Autorin wissen, warum die Wunde überhaupt da ist. Aufgrund der Vielseitigkeit der historischen, politischen und psychologischen Verflechtungen ist es jedoch schwierig, einen knappen Überblick zu geben. Harrer selbst nennt ihren Analysenband einen „Rundumschlag, der sich an einigen Brennpunkten des Nahen Ostens orientiert, aber mit den transnationalen Zusammenhängen im Blick und immer im Bemühen um historische Tiefe.“ Sie beginnt mit dem Irak-Krieg 2003 —schon das wirkt in der heutigen Zeit, das heißt, in einer Zeit, da wir heute schon die Nachrichten von morgen erfahren, historisch, antiquiert. Wie historisch wird es aber, wenn sie noch weiter zurückliegende Ereignisse thematisiert, wie etwa jene Desinformationskampagne, auf dem der Irak-Krieg basierte, denn es sei erwiesen, so Harrer, „(...) dass der Irak bereits im Dezember 1998, als US-Präsident Bill Clinton das Land mit der Operation Desert Fox abstrafte, keine Massenvernichtungswaffen und -programme mehr hatte, seit Jahren schon nicht mehr.“ Dann erwähnt sie auch noch die Sykes-Picot Grenzen. Menschen, die keine Nahost-Experten sind, müssen erst einmal nachschlagen, was das eigentlich ist, und schon befindet man sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts — was nun wirklich Ewigkeiten her ist! Was hat das alles mit der heutigen Situation zu tun? Vielleicht hilft die Definition des Irrgartens in dieser Frage weiter. Bei einem Irrgarten handelt es sich immer um eine künstliche Anlage. Im Unterschied zu einem Labyrinth, in dem nur ein Weg ohne Verzweigungen vom Eingang bis zur Mitte führt, erlaubt ein Irrgarten durch sein Netz von Wegen mit Abzweigungen, Kreuzungen, Sackgassen und Wegeschleifen ein echtes In-die-Irre-Gehen. Wir sind nun also mehr oder weniger total irre gegangen und am Anfang des 20. Jahrhunderts angekommen. Aber damit nicht genug, Harrer geht noch weiter — oder geht noch weiter zurück! Und hier offenbart sich in besonderem Maß ihre Fachkundigkeit, indem sie die konfessionellen Konflikte der unterschiedlichen islamischen Gruppen für jedermann verständlich offenlegt. Die Imamiten (Zwölferschiiten) sind die „Mainstream-Schiiten“, vielleicht eine Wortkreation Harrers, doch gibt es unter den Schiiten und den Sunniten wiederum zahlreiche Abspaltungen, so die Zaiditen (Fünferschiiten) im Jemen oder die Ismailiten (Siebenerschiiten). Auch die Sunniten sind keine in sich geschlossene Einheit, sondern bestehen — auf Grund ideologisch und geographisch bedingter Unterschiede — aus zahlreichen Gruppierungen. Der konfessionelle Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten kulminierte erstmals im Jahr 680. Da sind wir also, im Versuch den Islam zu verstehen, im Jahr 680 gelandet. Harrers Beschreibungen hierzu sind interessant und obwohl sich die Ausführungen nicht wirklich kurz fassen lassen, seien sie hier kurz gefasst: „Der Bruch (der Schiiten) mit den Sunniten geht auf die Frage zurück, wer der rechtmäßige Führer der Muslime nach dem Tod des Propheten Muhammad war.“ „Oft“, so schreibt Harrer über das Zusammenleben von Sunniten und Schiiten, „war es von Misstrauen und Verachtung geprägt, aber meist nicht gewalttätig.“ Das ist nachvollziehbar. Konfessionelle Konflikte gab es schließlich seit es Konfessionen gibt und nicht nur im Nahen Osten. Das klingt so „normal“. Was ich aber, wenn ich über den IS nachdenke, wissen möchte, ist: Wie kommt es zu dieser unglaublichen Gewaltbereitschaft? Was veranlasst Menschen dazu, sich selbst zu töten und möglichst viele andere Menschen mit in den Tod zu ziehen? Schließlich verspricht das Buch ein extra Kapitel über den IS und muss das Versprechen auch halten. Ich erhoffe mir Antworten. Das „völlig neue Kapitel über die Terrormiliz Islamischer Staat“ bleibt jedoch vage. Es befasst sich unter anderem mit einem Dokument, das von einem gewissen Cole Bunzel aus Princeton für die Dokumentationsplattform „Jihadica“ übersetzt worden sei und eine Art Brainstorming der Jihadisten enthalten solle. Harrer spekuliert: „Die aus der ganzen Welt kommenden Kämpfer sind vielleicht mehr von der antiimperialistischen, antiwestlichen Idee angezogen als von einer islamischen Utopie.“ Da sind wir wieder: Im Irrgarten. War das die richtige Abzweigung? Da ist nicht nur das Problem des in sich uneinigen Islam, sondern da sind schlichtweg die Araber an sich, die sich als Marionetten eines großen Strippenziehers empfinden, was Harrer im Kapitel „Mu’amara: Die Verschwörung“ erörtert. Das ist also ein Araber, der unter Xenophobie leidet, die aber nicht zuerst als Fremdenhass, sondern als Fremdenangst begriffen werden müsse. Dass sich im Rücken des zu Beginn so umjubelten „arabischen Frühlings“ eine unheimliche Tragödie anbahnte, die heute für viele Menschen das Leben in der ursprünglichen Heimat unmöglich macht, steht außer Frage. Am Ende des Buches muss man sich nach wie vor fragen: Wie nah ist uns der „Nahe Osten“ eigentlich? Harrers Analysen geben einen angemessenen und klugen Einblick und Anhaltspunkte zu eigenen weiteren Reflexionen. Laut Definition haben schließlich die meisten Irrgärten einen Zielplatz, der eine Aussichtsmöglichkeit bieten kann. Dieses Ziel gilt es zu finden. Es ist nicht zuletzt Harrers angenehmer journalistischer Sachlichkeit zu verdanken, dass man sich in diesem Irrgarten nicht vollständig verirrt. Harrers berichtähnliche Aufsätze sind gespickt und gewürzt mit persönlichen Anekdoten ihrer Reisen und Korrespondenzen. So schreibt sei zum Beispiel über einen damals in Bagdad lebenden Freund S., der Satellitenschüsseln verkaufte: „Meine Verwunderung war immer wieder groß, wie Menschen, die so lange in einer hermetischen Diktatur gelebt hatten — eigentlich ihr gesamtes Leben —, so viel von der Welt wissen und sie so vernünftig und objektiv beurteilen konnten. Es war, als ob sie gegen jede Art von Propaganda immun wären.“ Afamia Al-Dayaa Gudrun Harrer: Nahöstlicher Irrgarten. Analysen abseits des Mainstreams mit einem völlig neuen Kapitel über die Terrormiliz Islamischer Staat. Wien: Verlag Kremayr & Scheriau 2015. 191 5. € 22,00 Oktober 2016 61