OCR
Eine entscheidende historische Zäsur für die Landler war der Rückzug der Wehrmacht im Herbst 1944. Zugleich wurden nämlich die 3.000 Deutschsprachigen des Tals evakuiert. Wirtschaftliche Not und Heimweh ließen nach dem Krieg etwa ein Viertel zurückkehren. Eine erste Gruppe erfuhr die stalinistische Rachepolitik unmittelbar und wurde nach Sibirien deportiert. Valentin führt mich zu einem im Jahr 1949 in Gefangenschaft geborenen Mann. Nach der Rückkehr ins Tal verstarb seine Mutter bald an den gesundheitlichen Folgen der Verbannung. Von der Deportation blieben spätere Rückkehrer zwar verschont, doch auch sie verloren Hab und Gut. Längst hatten Nachbarn oder Zuzügler ihre Häuser übernommen. Auf noch unvergleichlich brutalere Weise spielte das Schicksal der großen jüdischen Gemeinde mit. Wenige Monate vor dem Heranrücken der Front erfolgten die Massendeportationen der ungarischen Juden nach Auschwitz. Der Wiener Linguist Wilfried Schabus konnte bei seinem Besuch im Jahr 1997 mit Abraham Sloimovié noch einen der wenigen Überlebenden des Vernichtungslagers antreffen und interviewen (Band Karpatenbeeren, 2006). Erinnerungen an jiidische Mitbiirger gibt es auch in der Familie Kais: Valentins Vater Franz driickte in Dubowe die Schulbank mit 27 Juden. Das sei fiir den einzigen Nichtjuden weitgehend harmonisch und konfliktfrei verlaufen. In Königfeld selbst zeugt ein vergessener jüdischer Friedhof von der einstigen Gemeinde. Valentin war vor 20 Jahren zum letzten Mal dort, seine Angaben sind vage. Man müsse ein Stückchen auf eine Anhöhe hinaufgehen, auf der anderen Seite des Flusses. Ich stecke mir die Hosenbeine hoch und wate durch den Fluss, das geht sich bei Niedrigwasser gerade aus. Den halben Nachmittag verbringe ich mit der Suche, den Friedhof finde ich aber nicht. Auswanderung 2016 In den Gesprächen über die bevorstehende Auswanderung klingt entgegen meinen Erwartungen kaum Wehmut mit. „Es wird alles gut für uns sein. Für die Kinder wird es das Beste sein, mit Alte Holzhäuser in Königsfeld. Foto: P. Adelsgruber 10 ZWISCHENWELT der Kinder stellen sich nun als Hauptantrieb heraus. Die zwei Ältesten haben bereits ein Jahr in Uschhorod studiert. Obwohl Valentin überdurchschnittlich verdient und die Kinderbeihilfe nicht zu vernachlässigen ist, war das nur dank der Unterstützung einer Familie aus Steyr möglich — keine Dauerlösung. Der unkalkulierbare Konflikt mit Russland spielt zwar auch eine Rolle, aber doch nicht die gewichtigste. Von Rekrutierungen in Transkarpatien wird eher abgeschen. In Kiew weiß man wohl um das hiesige Wort, wonach das Heimatland eines TIranskarpaten am Gartenzaun endet. Doch zu jeder Regel gehört eine Ausnahme: Als sich einer von seinen ehemaligen Uschhoroder Studienkollegen freiwillig an die Front meldete, war das für Valentin Grund zur Verwunderung. Gefragt nach seinen Motiven reagierte der Kollege beleidigt - erst eine Entschuldigung konnte das Verhältnis kitten. Wenig später kam er in den Kämpfen um. Als Nachsatz zur Frage des Patriotismus fügt Valentin hinzu, dass mittlerweile bei den Schulkindern eine stärkere Identifizierung mit nationalen Ideen festzustellen sei. Geschichts- und Literaturunterricht täten ihre Wirkung. Dass es mit Ausreise in die USA klappte, erstaunte alle. Besonders überraschend war es, dass man den Status von Flüchtlingen zuerkannt bekam. Das hatte zur Folge, dass der Ausreisezeitpunkt nicht selbst bestimmt werden konnte, jedoch die Transferkosten übernommen werden. In Sacramento wird man auf drei Dutzend Verwandte von Maria treffen, die der Ukraine längst den Rücken gekehrt haben. Einer ihrer Brüder wurde in der amerikanischen Großstadt jedoch nicht heimisch und kehrte zurück, er arbeitet weiterhin als Automechaniker in Königsfeld. Auch die Ukrainerin Maria hat bereits Migrationserfahrung: Kindheit und Jugend verbrachte sie in Estland, die Sprache hat sie gründlich gelernt. Aufgrund der aggressiven Stimmung gegen Russen und Ukrainer sei man in den 1990er Jahren in die Ukraine übersiedelt. Im Haus mit der Nummer 177 wohnt Valentins Mutter Elisabeth. Sie ist 83 Jahre alt und es geht ihr nicht besonders gut. Die Beine tun ihr weh. Sie redet in der alten Mundart und ich verstehe sie gut, nur manchmal muss ich nachfragen. Bis heute leidet sie unter dem Abtauchen ihres ungarischen Vaters: Nach dem Heranrücken der Sowjets brach er den Kontakt ab, die damals erkrankte Mutter blieb mit den Kleinkindern allein zurück