— Kranke wurden nicht evakuiert. Vom Vater blieben ihr nur
passable Ungarischkenntnisse, die ihr zum Erhalt der ungarischen
Staatsbürgerschaft verhalfen. Sie ist fromm und betont den Wert
des Glaubens. Im Wohnzimmer zeigt sie mir die CDs ihres ge¬
liebten Hansi Hinterseer: „In seinen Liedern liegt viel Wahrheit.“
Aber auch für Elisabeth Kais sind die letzten Wochen in Königs¬
feld angebrochen, im Nebenzimmer stehen bereits die gepackten
Koffer. Sie kommt aber nicht mit Valentin mit, sondern fährt
zum älteren Sohn Franz, der seit langer Zeit in Ebensee wohnt.
Zum Abschied schlägt mir die transkarpatische Regionaliden¬
tität ein Schnippchen. Denn hinter den Bergen gibt man sich
nicht mit der Kiewer Einheitszeit zufrieden. Parallel dazu gibt es
noch „unsere“ Zeit, und das ist jene von Budapest, Wien und
Paris. Sie unterscheidet sich um eine Stunde und gilt bei pri¬
vaten Terminen aller Art. Und so warte ich frühmorgens um 5
Uhr vergeblich auf Valentin und seinen Schwager, die mich nach
Uschhorod mitnehmen wollen. Bis es mir dämmert, dass mein
Soonim Shin
Rudolf Jeremias Kreutz
an Kiew orientiertes Handy und die Uhr der Sommerkiiche nach
verschiedenen Zeitzonen ticken, zahlt es sich gar nicht mehr aus,
sich nochmal hinzulegen. Wenn schon Brody in der Nähe von
Amerika liegen soll, dann gilt das für Uschhorod umso mehr.
Scholem Alejchem: Der Sohn des Kantors, Wien 1965.
Hans Schmid-Egger (Hg.): Deutsch-Mokra-Königsfeld. Eine
deutsche Siedlung in den Waldkarpaten, München 1973.
S. Gaisbauer, H. Scheuringer (Hg.): KARPATENbeeren. Bairisch¬
österreichische Siedlung, Kultur und Sprache in den ukrainisch¬
rumänischen Waldkarpaten, mit CD, Linz 2006.
Stimmen aus dem Teresva-Ial. Ein Hör- und Lesebuch zur Salz¬
kammergut-Kolonie Deutsch-Mokra/Königsfeld. Ebensee 2010.
1) Kreutz und der Theodor-Kramer-Abend
am 17. Mai 1934 im Hotel de France
Eine „Vorlesung aus Werken des österreichischen Lyrikers Theodor
Kramer“ kündigten zwei Zeitungen im Mai 1934 an, nämlich die
„Wiener Neueste Nachrichten“ am 13. Mai und die „Neue Freie
Presse“ am 15. Mai. Die Veranstalterin, die „Wiener Theatergilde“,
verschickte zu diesem „Iheodor-Kramer-Abend“ Einladungs¬
karten für Donnerstag, den 17. Mai 1934 „abends 8 Uhr“ im
„großen Saale der Wiener Theatergilde, I. Schottenring 3 (Hotel
de France)“. „Einleitende Worte spricht Rudolf Jeremias Kreutz“,
heißt es in diesen Einladungen.
Kreutz war als Rudolf Kfiz am 21. Februar 1876 in Rozda¬
lowitz in Böhmen geboren worden; nach dem Ersten Weltkrieg
übersetzte er das tschechische Wort „kfiz“ in das deutsche Wort
„Kreuz“ und fügte noch sein seit 1906 benutztes Pseudonym
„Jeremias“ hinzu.! So nannte er sich Rudolf Jeremias Kreutz (die¬
ser Name steht auch auf seinem Grab in Grinzing), während er
seinen Geburtsnamen Rudolf Krisch nur noch in behördlichen
Schreiben benutzte. Auch Kreutz also hatte eine Einladungskarte
bekommen, die sich in seinem Nachlass in der Wienbibliothek
erhalten hat. Der letzte Satz dieser Einladung lautet: „Wir bitten
Sie, unsere Absicht, österreichische Kunst und Kultur zu fördern,
durch Ihr Erscheinen unterstützen zu wollen und in Ihrem Be¬
kanntenkreis dafür zu werben.“ Der Eintritt betrug 2 oder 3
Schilling, Mitglieder der Theatergilde zahlten die Hälfte. In der
„Lebenschronik“ Theodor Kramers haben Erwin Chvojka und
Konstantin Kaiser auch den 17. Mai 1934 eingetragen — und eine
der Einladungskarten zum „Theodor-Kramer-Abend“ abgebildet.”
Und das Publikum erschien „zahlreich“, wie Leopold Liegler am
19. Mai in der „Wiener Zeitung“ berichtete; die „Neue Freie
Presse“ vom 25. Mai schrieb sogar von einem „sehr zahlreich
erschienenen Auditorium“.
In seinen einleitenden Worten sprach Kreutz, so das „Neue
Wiener Abendblatt“ vom 23. Mai 1934, „einfühlsam deutend
über das Iyrische Schaffen“ Kramers. Die „Neue Freie Presse“ lobte
diese „feinsinnige“ Einleitung und die Wiener „Volkszeitung“
vom 25. Juni 1934 die „klugen“ Worte von Kreutz, mit denen
sich der „beliebte Schriftsteller“ Kreutz „auch als Kunstrichter“,
also als Literaturkritiker, ausgewiesen habe. Neben der erwähnten
Einladungskarte findet sich auch das Manuskript von Kreutz zu
der von ihm an diesem Abend gehaltenen Rede in seinem Nachlass
in der Wienbibliothek.
Kreutz sprach in dieser Rede davon, dass die Menschen durch die
„ungeheuerliche Umschichtung auf jedem Gebiet“ „seelisch und
oft auch körperlich gequält“ seien: „Mechanisierung, Maschinis¬
mus und Gleichschaltung“ drohten die Menschen „zu entseelen“.
In dieser Zeit der „Öde zweckbetonter Sachlichkeit“ suchten
die Menschen emotionalen „Trost“. Diesen Trost könnten aber
die „technischen Wunder“ wie Auto oder Flugzeug mit ihrem
„windschnellen Geschleudertwerden“ nicht liefern, sondern nur
Naturerlebnisse: „Zum Beispiel ein Ruhen zwischen nickenden
Grashalmen, eine Fußwanderung, die an die Landschaft fesselt,
ein Sich-Schaukeln-Lassen von Wellen“. Die Emotionen seien
in diesem Sinne „konservativ“.
Es könne daher nicht überraschen, dass „der dichterische
Mensch“ zur Erde „zurückkehre“. Dem modernen Dichter gehe
es aber nicht — wie noch der Generation der Großeltern — um