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Konstantin Kaiser

Der lange Weg und der Bruch
Laudatio für Stefan Horvath und Gerhard Scheit

Gesprochen in Niederhollabrunn, 10. September 2016

Ich möchte zuerst an Babette Kramer, geborene Doctor, 1869
— 1943, erinnern, deren miitterliche Liebe und Zuwendung für
den stets kränkelnden kleinen Theodor Kramer doch von größter
Bedeutung war. In einem Brief an eine Freundin schreibt sie,
» Leddy“, wie sein Kosename lautete, habe ihr im Fieberdelirium
1905, als Achtjähriger, ein erstes Gedicht diktiert — es ist nicht
erhalten. Wir wissen sehr wenig iiber sie, und meine Versuche,
mehr iiber sie zu erfahren, sind bisher im Sande verlaufen. Stolz
war sie jedenfalls auf ihren dichtenden Sohn. Wir kennen das
Familienfoto, auf dem eine sehr gut aussehende junge Frau im
Jahre 1898 im Kreise ihrer Lieben vor dem „Doktorhaus“ in
Niederhollabrunn zu sehen ist; Kramers älterer Bruder Richard
posiert aufeinem Schaukelpferd, während der kleine Teddy auf ein
Stühlchen plaziert ist. Sie hat einen schr großen Teil ihres Lebens,
von 1892 bis 1927, in Niederhollabrunn verbracht. Aus Wien
wurde die über Siebzigjährige von den Nazis ins Konzentrations¬
lager Theresienstadt deportiert, wo sie im Jänner 1943 starb — wir
wissen nichts Näheres über ihren Tod, wissen bloß, daß gerade alte
Menschen in diesem Lager oft nur wenige Wochen überlebten. Der
Sohn hat ihr den Gedichtzyklus „Die grünen Kader“ gewidmet.
Auch hier in Niederhollabrunn soll ihrer einmal gedacht werden.

Ich habe hier nun die schwierige Aufgabe, zwei schr verschiedene
Preisträger vorzustellen. Der eine ist ein Sohn von Überlebenden
der Nazi-Konzentrationslager, ist in den Roma-Siedlungen im
burgenländischen Oberwart aufgewachsen, hat Volks- und Haupt¬
schule absolviert und ist lange Jahre Bauarbeiter gewesen, hat es
zum Baupolier gebracht. Der andere ist ein Sohn eines Wiener
Philharmonikers, hat in Wien und Berlin Musik, Theaterwissen¬
schaft, Germanistik, Philosophie studiert, viele Bücher geschrieben
und wurde Lehrbeauftragter an mehreren Universitäten. Der eine
hat Gedichte, ein Theaterstück und Prosawerke verfaßt, in denen
er das tragische Schicksal und das Weiterleben der Roma nach dem
„Porajmos“, der Verfolgung und dem Massenmord, beschreibt,
der andere ist nach landläufiger Zuschreibung ein Essayist, also
einer, der für seine Leser vor allem Gedanken entwickelt, ob sie
ihm nun folgen wollen oder nicht. Den Geburtsjahrgängen nach
sind sie ein Jahrzehnt auseinander, was in der österreichischen
Nachkriegszeit, die bis in die Mitte der 1960er Jahre andauerte,
auch einen großen Unterschied ausmachen kann.

Die beiden Preisträger, Stefan Horvath und Gerhard Scheit, haben
jedoch zwei Dinge gemeinsam, die ich hervorheben möchte, es
sind dies der lange Weg und der Bruch.

Ich mißtraue eigentlich fast allen, die mit ihren Begabungen,
Überzeugungen und Fähigkeiten im Nachkriegsösterreich wie
aus der Pistole geschossen hervorgetreten sind. Das geistige und
moralische Erbe, das in Österreich nach 1945 anzutreten war,
war bestenfalls bedrückend. Hunderttausende waren vertrieben,
ermordet, in Lagern und Gefängnissen zutiefst gedemütigt worden,
andere Hunderttausende hatten sich aktiv an den Verbrechen der
Nationalsozialisten beteiligt. Man könnte sagen, Österreich war
ein Land, in dem unter der Oberfläche des Wiederaufbaus große
Unordnung und großes Unrecht herrschten. Als die wenigen
überlebenden Roma in ihre Heimatorte zurückkehrten, fanden
sie sich sogleich wieder beiseite geschoben, unwillkommen, nach
dem Verlust ihrer Heimstätten notdürftig untergebracht. Ihre
Ansprüche auf Ersatz materieller Verluste wurden nur schleppend
und widerstrebend anerkannt. Im beruflichen und schulischen
Bereich fanden sie sich weiterhin ausgegrenzt. Stefan Horvath
weiß aus eigener bitterer Erfahrung davon zu erzählen. An den
Schulen und Universitäten blieb der Einfluß nationalsozialistischer
Lehrer und Universitätsprofessoren — meist wieder eingestellt
nach wenigen Jahren einer ‚schöpferischen Pause‘ — erheblich.
So war es für Gerhard Scheit und seine Studienfreunde noch
Anfang der 1980er Jahre notwendig, an die nationalsozialistische
Vergangenheit des Instituts, an dem sie damals studierten, des
Instituts für Iheaterwissenschaft, zu erinnern.

Was aber noch viel gewaltiger war als das Wirken von nunmehr
wieder katholisch gewordenen HJ-Führern, von Richtern, die
noch immer nach dem „gesunden Volksempfinden“ zu richten sich
erlaubten, von Studentenverbindungen, die sich der „deutschen
Ehre“ vepflichteten, war das Schweigen, das Schweigen nicht nur
der an den Untaten der Nazis Beteiligten, sondern auch das der
Überlebenden der Gefängnisse und Lager. Ich staune bis heute
darüber, daß es in Österreich nur ganz wenige Fälle öffentlicher
Selbstkritik ehemaliger Nationalsozialisten gegeben hat. Eher
wurde das ideologische Instrumentarium unversehens umfunkti¬
oniert und ummontiert, aus der von der NS-Führung gewünsch¬
ten konfessionslosen „Gottgläubigkeit“ wurde flugs wieder das
Bekenntnis zur allein seligmachenden Kirche. Weniger staune ich
darüber, daß auch Überlebende der Shoah und des Porajmos, der
mörderischen Verfolgung der Roma und Sinti, sich in Schweigen
hüllten, heimgesucht von immer wiederkehrenden Albträumen,
die sie ihren Nächsten und Kindern nicht weitergeben wollten.
Hier existiert aber eine breite und große Erinnerungsliteratur, die
jedoch - abgesehen von wenigen Ausnahmen - erst ab den späten
1970er Jahren publiziert worden ist. Stefan Horvath beschreibt
eindrücklich das Schweigen seiner eigenen Eltern, ein Schweigen,
das er erst schr spät durch geduldiges Nachfragen wenigstens
lockern konnte. Gerhard Scheit hat immer angeschrieben gegen
die Verantwortungslosigkeit jedes Einzelnen, der sich da weiter

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