anderswo gerade eine Frau gesteinigt wird oder sich ein Mann
genötigt sicht, sein Bein zu verkaufen, damit die Kinder in den
nächsten zwei Wochen etwas zu essen haben.
Nur ein Bein, hack es ab, dem Leib geht es gut.
Er müsste sein Bein nicht abhacken, er könnte lichen, ja, das
könnte er doch tun: sein Säcklein schnüren und ab in die Wohl¬
standländer. Dieser Gedanke vergisst, dass die Flucht abermals
Wunden reißt, Wunden, die schwer verheilen, Wunden im Herzen,
und willkommen ist der Mann womöglich auch nicht, kaum ein
Flüchtling ist das je gewesen, denn er bringt die Angst mit: vor
dem, was er erlebt hat, dem, was uns bisher erspart geblieben ist,
vor dem, was wir bisher erfolgreich verdrängt haben.
Auch meine Großeltern sind nicht freundlich begrüßt worden
und noch zwei Generationen später, als ich ein Kind war, sagte
mir die ältere Nachbarin, dass meine braunen Augen wohl ein
Hinweis darauf seien, dass ich von den Polacken, ihr Wort, nicht
meines, abstamme. Wovor sind diese Nachbarn geflohen? Vor
ihrer eigenen Vergangenheit in Hitler-Deutschland? Vor ihrer
eigenen Angst?
Vor dem Fremden?
„Bleibt in euren Ländern“, sagen wir heute, „bleibt doch einfach
dort, bitte.“ Könnte nur sein, dass ihr dann eine unserer Bom¬
ben auf den Kopf bekommt, aber das sagen wir nicht und sagen
auch nicht: „Bleibt, wir tragen Sorge, dass unser Menschenrecht
überall gilt, unser Recht für Frauen, für Kinder, das Recht des
Menschen als Menschen.“ Und da wir über Letzteres schweigen
und Ersteres zu leicht zu durchschauen ist, machen sie sich auf
den Weg, die Menschen, und nehmen statt echter Bomben lieber
das Bombardement an Feindseligkeit in Kauf, weil der Mensch
über einen starken Überlebenswillen verfügt und der Wunsch
nach Gerechtigkeit einen zusätzlichen, starken Antrieb gibt.
Der Leib will sich vollster Gesundheit erfreuen, nicht nur der
Zeh, das Bein, das Hirn, nein, vor allem auch das Herz, denn ein
Körper funktioniert nur unter Pein partiell: das eine nicht ohne
das andere. Dagegen gibt es Licht ohne Schatten schr wohl, nur
wird das gern vergessen, und der Schatten stört auch nur marginal,
denn er liegt stets woanders: in ferner Vergangenheit oder auf der
anderen Seite der Welt.
Die Gegenwart ist eingebettet in das Gesamtgefüge, und die
Flucht vor Fragen nach der Verantwortung wirft ihre Schatten
voraus, wie es gern heißt, aber warum Schatten? Ursache schafft
Wirkung, aber Wirkung schafft auch Ursache, was meint: Wenn
wir jeder und jedem ihren und seinen Wert zugestehen und ins
Licht stellen, wären Handlungen, die zu menschenunwürdigen
Bedingungen führen, undenkbar und damit nicht-existent. Men¬
schen leuchten, wenn du sie lässt und niemand Gründe zur Flucht
produziert, einer Flucht, die sich dann nur immer weiter fortsetzt:
in den Köpfen, den Herzen, den Körpern, der Welt.
Vielleicht nutzen die Flüchtlinge doch etwas, jenseits ökonomi¬
scher Überlegungen, die nur wieder menschenverachtend wären:
Sie helfen, das Bewusstsein darüber zu fördern, wie unsere Welt
aktuell funktioniert und alternativ funktionieren könnte, und
dafür zu sorgen, dass der eine Leib gesunden kann.
Er sollte es wert sein.
Corinna Antelmann, geb. 1969 in Bremen. Studium von Film,
Theater, Literatur, Musik an der Universität Hildesheim, dann an¬
gestellt als Dramaturgin in der „Theaterwerkstatt Hannover“ und
der „Trickompany Hamburg“. Seither freie Autorin, Dozentin für
Storytelling und Drehbuchconsulterin. 2014 wurde ibr der Frau-Ava¬
Literaturpreis verliehen, 2015 das Kranichsteiner Jugendliteratursti¬
pendium. Zuletzt erschienen: Der Rabe ist Acht (mixtvision Verlag,
München 2014), Vier (Septime, 2014), Hinter die Zeit (Septime,
2015) und Saskias Gespenster (Monika Fuchs-Verlag, 2016). Corinna
Antelmann wohnt seit 2006 in Oberösterreich.
Mensch und Exilant, der er war
Als Joseph Brodsky 1996 mit gerade einmal 55 Jahren starb,
verlor die Welt nicht nur einen Nobelpreisträger (1987) und
bekannten Exilanten der chem. Sowjetunion, sondern auch einen
bedeutenden Lyriker und Verteidiger der Poesie. Es mag wie eine
Podesterrichtung wirken, diesen Satz direkt an den Anfang zu
stellen, doch er ist lediglich Ausdruck der großen Bewunderung,
die ich diesem Mann, seinem Idealismus, seiner Intelligenz und
seiner Kunst entgegenbringe.
Nur wenige Literaten und Kulturangestellte können heute noch
als „Verteidiger der Poesie“ gelten; gerade in Deutschland ist der
Sing-Sang von der immensen Wichtigkeit der Lyrik, in dessen
Folge sich kein für Gedichte begeistertes Publikum, sondern eine
elitäre Dichtergilde gebildet hat, eher eine Art eingeschworenes
Zirkelmanifest geworden, das nur selten die Kraft eines wirklich
ostentativen Bekenntnisses erreicht. Was Ausnahmen nicht in
Abrede stellen soll, aber es bleibt dabei, dass ein aktives, offenes
und gelungenes Werben für die Lyrik (während das Streiten über
die richtige Art von Lyrik Hochkonjunktur hat) Seltenheitswert
besitzt.
Wistawa Szymborska, Dichterin und Literaturnobelpreistrage¬
rin 1996, sprach in ihrer Preistragerrede von einer ebensolchen
Schwierigkeit, heute den Beruf des Dichters iiberhaupt auszuiiben
und den hohen Anspruch des Titels zu rechtfertigen. Es gabe ja
keine Bescheinigung, keine amtliche Urkunde fiir diesen Titel.
Dementsprechend wiirde niemand, nicht einmal die Dichter
selber, das Wort gerne benutzen.
Doch sie erwähnte auch eine Ausnahme: Joseph Brodsky, der
keine Probleme damit hatte, sich als Dichter zu bezeichnen - ja,
der sogar ohne Hemmungen auf diesem Wort bestand.
Auch darin liegt, ohne ihn über das angemessene Maß hinaus
rühmen zu wollen, ein Teil der mit ihm verbundenen literari¬
schen Faszination: als einer der letzten großen Dichter war er
sich der Problematiken sowohl der Lyrik als auch des politischen
Engagements und vieler anderer Ambivalenzen der Moderne