und streicht uns dabei sanft aus dieser Gegend.
Du sitzt jetzt reglos.“
In Essays erreichte Brodsky eine hohe Kunst, die fast schon als
Sinnbild für das Ideal des geistig sensibilisierten, humanistischen
und gelehrten Menschen herhalten könnte. Seine Dichtung, die
zugleich hochwertig ist, innovativ und doch keine Festlegung
zulässt (ausgenommen die Gestalt ihres Autors), hat bis heute eine
cher zögerliche Behandlung genossen; auch, weil sie vielfach die
die Leere umkreisenden Seiten von Brodskys Weltsicht offenbart,
sein Exildasein und viele andere Lebensthemen nicht wie in den
Essays einfach abhandeln kann, sondern als Erlebnis erspüren
muss. Sein Kunstverstand und seine reflexive Versessenheit sind
auch in diesem Teil seines Werkes wichtige Eckpfeiler, aber ihre
Anziehungskraft auf das Zentrum der Texte, den Stil, den Ton,
ist begrenzt, wirkt oft weiter entfernt.
Als Brodsky 1972 aus der Sowjetunion (wo er zuvor wegen „Pa¬
rasitentums“ in einen Gulag gebracht worden war, aus welchem er
nur aufgrund internationaler Proteste freikam) ausgewiesen wurde
und in die Vereinigten Staaten kam (wobei man ihm die meisten
seiner bis dato verfassten Manuskripte vorher raubte), wurde er
für seine Essays umfassend bewundert - seine Lyrik nahm man
cher zwiespältig auf. Er schrieb sie zum Großteil weiterhin auf
Russisch — aus Wehmut und Verpflichtung, weil es seine Hei¬
matsprache war, aber auch weil er ihre syntaktischen Feinheiten
und ihren Wortschatz in Bezug auf den lyrischen Gehalt schätzte.
Viele Einflusssphären, u.a.: die russische, die mediterran-antike
und die angloamerikanische, aber auch die polnische Lyrik-Tra¬
dition, haben seine Dichtung inhaltlich und formell gespeist;
Schwerpunkte seiner Gedichte sind die Sphären von Ewigkeit
und Heimatlosigkeit. Es geht vielfach um das Vergehen, die Zeit
und die Empfindung im Verhältnis zum Raum - und um das
Unabwendbare, das nicht nur eine Unabwendbarkeit der Zeit
selbst ist, sondern das Schicksal von allem, was in ihr geschicht,
in ihr lebt, in ihr vergeht. Gerade dieser Aspekt stellt jedoch auch
eine der wesentlichen Formen der Schönheit dar, wie Brodsky
immer wieder betont.
„Die Wascherinnen-Brücke, wo wir zwei
den Zeigern glichen eines Zifferblattes
die sich umarmen um Punkt Zwölf bevor
sie sich für Stunden nein! sich dauertrennen
und heute steht auf dieser gleichen Brücke
ein Fischer, leidet ganz wie ein Narziß
und starrt, den Korken hat er längst vergessen
auf sein beweglich vages Spiegelbild.“
„denn die Züge der Zeit, unsichtbar, alles andre als offen,
treten plötzlich heran
in den Dingen, und den Brustraum fühlst
du beengt von Altersfalten; diese Linien, bedaure,
wirst du nicht glätten, sie tauen wie Raureif
wenn du sie kaum berührst.“
Sie ist keine simple Angelegenheit, diese zyklische und zutiefst
elegische Lyrik, die oft etwas vom nächtlichen Schwimmen in
unbekannten Gewässern hat, in Kanälen einer menschenleeren
Stadt — oder etwas von einem Mythos, der sich in den eigenen
Gedanken vervielfältigt und verspinnt, ohne dabei die ganze Zeit
wirkliches Geschehen abzubilden, sondern vielmehr eine im Ich
verortete Gedankenwelt, die am Wirklichen teilnimmt und es
dennoch bespricht. Eine Gedankenwelt, in der nicht nur das
Hier und Jetzt anwesend sind, sondern alle Fäden aus Zeit und
Raum, die sich einmal um einen herumgewickelt haben, zusam¬
mengeworfen mit den Eindrücken des Jetzt.
Ihrem Wesen nach ist diese Lyrik nicht hermetisch und nicht nur
der Ausdruck einer Freude oder eines Leids, eines Moments oder
einer Angelegenheit, sondern einer ambivalenten Empfindung,
der Empfindung und Erfahrung am Leben zu sein, in welcher
poetische Nuancen von zahlreichen Lebenswelten aufblitzen,
abgekehrt und gleichzeitig doch dem Leser zugewendet.
„Ich schreckte heute zweimal aus dem Schlaf
und ging ans Fenster, wo die Straßenlampen
den Halbsatz, der im Traum gefallen war,
mit Pünktchen, Pünktchen, Pünktchen weiterspannen,
um auch nicht einen Funken Trost zu lassen.“
„und der Stadt wo keinerlei Spur der Schritt
hinterlässt — wie der Kahn auf all den Wasser¬
Nächen, und dahinter jeder Raum gefasst in
Ziffern Richtung Nullpunkt blickt
und keine tiefen Spuren lässt auf den Plätzen
die breit sind wie ein >Lebewohl< und in engsten
Gassen schmal wie ein >Ich liebe dich<.“
Zynismus und Zärtlichkeit, beide sind sie wichtig für Brods¬
kys Lyrik, und er hielt sie in dieser Gattung allein für vereinbar;
als wäre die Poesie das letzte Schicksal dieser beiden Gefühle.
Die biographische Prägung ist der Ausgangspunkt, aber Brodsky
entwickelte daraus eine tiefgehende Idee von den Verbindungen
zwischen Leid und Sehnsucht, Verschwinden und Dasein. Exil
ist für ihn keine Kategorie, keine Marke, sondern ein Gefühl;
ein Gefühl, welches seine Dichtung einfangen soll; einfangen
kann - einfangen muss.
Ums Exil kreisen daher seine Gedichte, oder, besser gesagt: Die
Ideen, die Symbole des Exils und die Stimmungen, die dieser
Vorstellung zu Grunde liegen. Wie Legenden hört sich man¬
ches an und anderes wie regierender Spott. Zynismus, wegen
der weltlichen Verwerfungen, in die Brodsky und viele andere
hineingezogen wurden, Zärtlichkeit, weil er die Welt für eine ein¬
zigartige Symbiose aus Sein und Nichtsein hielt, für ein Kommen
und Gehen, in denen der Mensch mehr eine Ahnung sein muss
als eine Tatsache und in dieser Ahnung ein bestimmender Teil
des Seins, der einzigartig und kostbar ist; schr gut zu schen im
ersten der folgenden Zitate, das zu einem der schönsten Stücke
in Brodskys lyrischem Werk gehört:
„Stehst du allein auf dem öden Hochland im Lot
unter der abgrundtiefen Kuppel Asiens in deren Bläue ein Pilot
oder Engel bisweilen einen Streifen Stärkemehl hinschickt;
wenn du unwillkürlich zusammenzuckst im Gefühl: bin ich
klein! so erinnere dich dass der Raum der, wie es scheint
nichts und niemanden braucht, gerade in Wirklichkeit
stark den Blick von Außerhalb benötigt, das Leere-Kriterium.
Und diesen Dienst ihm leisten — kannst nur du. Eben darum.“
Dieses „bin ich klein“ und das „eben darum“ sind so etwas wie
die inneren Gegensätze seiner Lyrik-Philosophie.
„Und wenn du auf ein Lächeln wartest — ich
werde ja lächeln! Lächeln über sich geht vor
und ist wohl dauerhafter als ein Grab für Morgen
und leichter als der Rauch über dem Ofenrohr.“
„Da steh ich nun im offenen Mantel
und lass die Welt mir durch ein Sieb
des Nichtbegreifens in die Augen fließen.“
Sie ergeht und ereignet sich oft in Wendungen, seine Poesie.
Da sind Details, die zusammen geschoben werden und anfangen