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Ich gratuliere Guy Stern von ganzem Herzen zu diesem wohl¬
verdienten Preis.

Die in Hamburg und Dublin lebende Autorin Renate Ahrens ist
Verfasserin von Romanen, Kinderbüchern und Theaterstücken. Sie ist
Mitglied des PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland.

Anmerkungen

1 Guy Stern: Literarische Kultur im Exil. Gesammelte Beiträge zur Exilfor¬
schung/Literature and Culture in Exile. Collected Essays on the German¬
speaking Emigration after 1933 (1989 — 1997). Dresden, München Dresden
University Press 1998, 23.

2 Ebd., 16.

3 Ebd., 17.

Etwas befremdlich

Etwas befremdlich ist die 2012 in Diisseldorf erschienene Antho¬
logie „Ist es Freude - ist es Schmerz? Jüdische Wurzeln — deut¬
sche Geschichte“, eine mehr als 1.000 Druckseiten umfassende
Sammlung, herausgegeben von Herbert Schmidt im Verlag ED.
XIM Virgines. Durch Zufall ist sie erst jetzt zu unserer Kenntnis
gelangt. Der Herausgeber scheint angesichts des guten Zweckes
ein wenig auf das Urheberrecht vergessen zu haben; obwohl die
Auswahl vielfach auf den Spuren von „In welcher Sprache träumen
sie?“ (Wien 2007) wandelt und die Rechte für Autorinnen wie
Anna Krommer und Stella Rotenberg bei der Theodor Kramer
Gesellschaft liegen, erhielten wir nicht einmal ein Belegexemplar.

Zugute halten muß man dem Herausgeber, daß er seine Quellen
angibt und die von ihm erstellten Kurzbiographien im allgemei¬
nen vertrauenswürdig wirken. Doch schleichen sich viele kleine
Ungenauigkeiten ein. Einen H.G. Adler möchte man ungern als
„Adler, H(ans) Günther“ angeführt finden, hatte er doch seine
Vornamen Hans Günther auf jenes H.G. reduziert, da sie ihm
wegen des gleichnamigen Naziverbrechers schwer erträglich wur¬
den. Die Manie auch, die AutorInnen wie Karteikarten oder
Rekruten aufzurufen, also Nachname vor Vorname, ist zumindest
unüblich, wirkt autoritär. Daß von Berthold Viertel ausgerechnet
schon 1904 Beiträge in der „Fackel“ erschienen sein sollen, ist eine
ebenso interessante Neuigkeit wie sein angeblich 1941 erschie¬
nener Gedichtband „Die deutsche Sprache“. Dafür fehlt dann
tatsächlich Erschienens. Warum man einen Feuilletonredakteur
„Schriftleiter“ nennen muß, ist unerfindlich. Bei Theodor Kra¬
mer wird nicht vergessen, das Märchen nachzuerzählen, er habe
als „Iaglöhner“ gearbeitet. Vom Austrofaschismus und seinen
Auswirkungen für Kramer ist jedoch im Rahmen der „deutschen
Geschichte“ keine Rede. Stella Rotenberg hat ihre ersten Gedichte
1940 nicht veröffentlich, sondern bloß geschrieben; ihr Buch
„Ungewisse Ursprünge“ ist etwas bekannter unter „Ungewissen
Ursprungs“ (1997). Und woher hat der Herausgeber nur das
Wissen über Anna Krommer: „Sie wird auf Wunsch des Vaters
katholisch erzogen.“

Problematisch erscheint mir hingegen, daß AutorInnen mit „jü¬
dischen Wurzeln“ aus dem Kontext von Widerstand, Verfolgung,
Exil herausgelöst und damit auch neuerlich ausgegrenzt werden,
ob sie sich nun zum Judentum bekannt haben oder nicht. Man

6 _ ZWISCHENWELT

4 Rede des Oberbürgermeisters der Stadt Hildesheim, Kurt Machens, zur
Verleihung des Ehrenbürgerrechts an Prof. Dr. Guy Stern am 8. Mai 2012,
www.hildesheim.de.

5 „Der Ritchie Boy“, Interview mit Guy Stern, Jüdische Allgemeine, 2.6.2016.
6 Ebd. und Stern, wie Anm. 1, 277.

7 Wie Anm. 5.

8 „Brückenbauer zwischen den USA und Deutschland“, Interview mit
Guy Stern, Deutschlandradio Kultur — Aus der jüdischen Welt, 8.5.2015.
9 Ebd.

10 „US-Präsident: Literaturwissenschaftler Guy Stern nennt Trump ‚völlig un¬
berechenbar‘,,, Interview mit Guy Stern, Mitteldeutsche Zeitung, 14.1.2017.
11 Stern, wie Anm. 1, 276.

12 Wie Anm. 5.

13 Wie Anm. 10.

14 Stern, wie Anm. 1,7.

15 Ebd., 241 f.

16 Ebd., 250 f.

17 Wie Anm. 8.

18 „Holocaust Center leader to get France’s highest honor“, Interview mit
Guy Stern, www.detroitnews.com, 27.1.2017.

kann natürlich sagen, daß ihre jüdische Herkunft ihr Schicksal
wesentlich beeinflußt hat, daß sie also ein „jüdisches Schicksal“
hatten. Dennoch scheint mir die Anwendung der Nürnberger
Rassegesetze als Kriterium einer Auswahl literarischer Beiträge bei
aller Liebe, die man den so Erwählten angedeihen läßt, weiterhin
fragwürdig. Oder ist für den Herausgeber doch die Halacha ma߬
geblich, und folglich sind „Becher, Ulrich“ und „Kuhner, Harry“
nicht dabei, weil sie keine jüdischen Mütter hatten?

Problematisch erscheint mir ebenfalls die nicht weiter reflektierte
Einbeziehung österreichischer AutorInnen in die Anthologie.
Selbst wenn man jene AltösterreicherInnen, die in Prag, Brünn
oder Czernowitz geboren wurden, beiseite läßt und sich auf die
beschränkt, die in den Grenzen des heutigen Österreich geboren
wurden und/oder gelebt haben, zählt man über 150, die da der
„deutschen Geschichte“ ihren Tribut zollen.

Man fragt sich, um welche Literatur es sich handelt. Geht es in
der Anthologie um den jüdischen Beitrag zur deutschen Literatur?
Oder geht es um den deutschsprachigen Beitrag zur jüdischen
Literatur? Oder geht es um AutorInnen mit „jüdischen Wur¬
zeln“, die auf für sie meist unerfreuliche Weise Bekanntschaft
mit „deutscher Geschichte“ machen mussten? Wenn dem so ist,
warum finden sich keine italienischen, jiddischen, polnischen,
französischen, hebräischen AutorInnen in der Anthologie? Hatten
Jitzchak Katzenelson, Primo Levi, Joszef Wittlin, Rajzel Zychlinski,
Imre Kertesz, Abraham Sonne und viele, viele weitere nicht unter
„deutscher Geschichte“ zu leiden?

Ich will dem Herausgeber nicht unterstellen, daß er den von
ihm gesammelten AutorInnen mit „jüdischen Wurzeln“ besondere
Rasseeigenschaften zuschreibt, die er nun als vorteilhaft wertet,
während sie dem Nationalsozialismus als ein Erbübel galten. Ich
vermute, es war ihm cher darum zu tun, eine Schuld abzutragen,
den Opfern der Verfolgung und des Massenmordes gegenüber.
Daß er sie damit aber in einem Opferstatus beläßt, sie entpoliti¬
siert und nationalisiert, ist ihm offenbar nicht bewußt geworden.

Resümee: Man sollte das Urheberrecht auch dann achten, wenn
einem der Busen vor Edelmut schwillt; und man sollte die Frage
des Jüdischen in der Literatur auf internationaler, nicht gro߬
deutscher Grundlage stellen.

Konstantin Kaiser