Wie bereits in ZW Nr. 4/2016, S. 65, angekiindigt, erscheint dieser
Beitrag nun in der von Hadwig Kraeutler autorisierten Letztfassung,
nachdem in ZW Nr. 3/2016 irrtümlich eine längst verworfene Fas¬
sung erschienen ist. — Red.
Gewidmet Mary Elizabeth Lasher Barnette (14. Marz 1922 — 9.
Marz 2016)!
Vor etwas mehr als 30 Jahren (im Studienjahr 1983/84) und in
England begegnete ich Alma S. Wittlins Namen zum ersten Mal,
und sogleich sehr eindriicklich. Zwei Werke von Wittlin waren
damals in der Pflichtleseliste der School of Museum Studies in
Leicester angeführt.?
Diese Bücher behandeln das Museum und seine gesellschaft¬
lichen Aufgaben und fielen in mehr als einer Hinsicht auf. Im
Vergleich mit den Schriften der meisten anderen Autoren der
erwähnten Leseliste zeichneten sie sich einerseits durch eine kri¬
tisch-soziologisch ausgerichtete Sicht der Institution Museum
aus, andererseits durch penible Gründlichkeit in der historischen
Darstellung, mit Betonung klassischer Traditionen, sowie durch
einen gewissen Mangel an theoretischer Durcharbeitung und die
etwas hölzerne Sprache. Heute, mehr als 60 Jahre nach Wittlins
aufrüttelnden Fragen nach der Funktion und den gesellschaftlichen
Aufgaben von Museen, werden diese tatsächlich als besonders
wirkungsvolle Kommunikationsmedien gesehen: als allgemein
offene und respektierte Orte, die mit unterschiedlichsten inte¬
ressanten Ihemen, mit exquisiten und ‚echten‘ Objekten, mit
attraktiv gestalteten Räumen, Metaphern, Impact und ‚Kör¬
perankern‘ zu relevantem, partnerschaftlichem Austausch und
zum gemeinsamen Diskutieren und Lernen einladen können.
Auch werden die Themen, die Wittlin oft behandelte, wie die
Verbindung zwischen Kunst und Kommerz, Kunstsammlung und
Öffentlichkeit, Kunsthandel, Kunstkonsum und -vermittlung,
damit verbundene Machtpositionen und die gesellschaftlichen
Rollen der Institutionen, bzw. der einschlägigen Berufe aus sozi¬
alwissenschaftlicher, kulturgeschichtlicher oder museologischer
Sicht wiederum differenziert diskutiert.?
Ich jedenfalls zitierte Wittlin gerne und häufig in meinen Arbeiten
(Semesterarbeiten, MA-Thesis), dachte aber — zurück in Öster¬
reich und in der musealen Berufspraxis mit ganz anderen Fragen
konfrontiert — erst im Jahr 2009 wieder daran, mich mit dieser
interessanten Museologin zu beschäftigen. Der Schlüsselmoment
hierfür war, dass ich Wittlins Namen, ihr Geburtsdatum und
einige Dokumente zu ihrem Kunstgeschichtestudium auf dem
damals neuen Denkmal für die durch das NS-Regime ermorde¬
ten, vertriebenen, ausgegrenzten ehemaligen Angehörigen des
Instituts für Kunstgeschichte der Universität Wien entdeckte und
auf der parallel entstandenen Internetpräsentation.‘ Es fehlte mir
jedoch sowohl ein Hinweis auf Wittlins einflussreiches Wirken im
Museumsbereich — hier war ich ihr ja 25 Jahre frither begegnet —
als auch Näheres zu ihrem weiteren Schicksal. Ich war besonders
betroffen, weil die Wortwahl ‚Dozentin‘ eine Rolle zuschreibt und
implizit auch gender-stereotype Klischeevorstellungen wiederholt,
die Wittlin, sollte ich sie ‚richtig‘ interpretieren, nicht verkörperte
oder vertrat, und ich war neugierig geworden, da ich die Diskre¬
panzen und die Vorgänge dahinter besser verstehen lernen wollte.
Mein besonderes Forschungsinteresse galt und gilt dabei Wittlins
museologischen und erzichungswissenschaftlichen Arbeiten, den
schon zu ihrer Zeit anerkannten Beiträgen mit interdisziplinären,
innovativen und noch heute überzeugenden Ansätzen.
Einiges konnte ich in der Zwischenzeit recherchieren —- manche
Stationen von Wittlins Leben sind nun besser belegt‘, vermutlich
größtenteils auch ihre Schriften erfasst. Andere Phasen sind aber
nur in groben Zügen darzustellen. Wichtige Aspekte, wie zum
Beispiel welche Diskussionspartner oder Quellen für ihre Arbeiten
tatsächlich Ausschlag gebend waren, zu vermutende Begegnungen
und berufliche Einflüsse, bleiben teils (noch) im Dunkel. Jegli¬
cher Versuch, eine Zusammenhänge wiedergebende Darstellung
zu erbringen, scheint aufgrund der spärlichen Quellenlage von
Vornherein zum Scheitern verurteilt. Größere Argumentations¬
linien lassen sich oft nur aus bekannten Details extrapolieren,
oder beruhen auf Vermutungen und bleiben eigentlich unsicher.
Alma S. Wittlin — Biografische Eckdaten
Alma S. Wittlin (1899-1992)’, die aus dem vormaligen Habsburger
Reich stammende, in Wien aufgewachsene und ausgebildete, und
heute nur in Fachkreisen (insbesondere im anglophonen Sprach¬
raum) bekannte Museologin und Erziehungswissenschaftlerin®,
hatte sich stets für eine klare gesellschaftliche Positionierung in
Bezug auf die demokratische Organisation der Bildungseinrich¬
tungen und für deren vorrangige Förderung eingesetzt.” Ihren
praktischen Erfahrungen und den Ergebnissen ihrer wissenschaft¬
lichen Untersuchungen entsprechend, bezog sie sich dabei vor
allem auf außerschulische und ‚freie‘ Lernangebote, wie sie in
Kulturzentren, Museen oder Ausstellungen für die ‚user‘'° be¬
reitgestellt werden können.
Diese bisher erst fragmentarisch erfaßte Biografie betrifft die
Lebensgeschichte einer Schriftstellerin und Wissenschaftlerin,
einer pragmatischen Pazifistin und Feministin und ihre huma¬
nitären Bemühungen um Demokratie und Aufklärung. Der Ver¬
laufvon Wittlins Leben war vom europäischen Kriegsgeschehen
im 20. Jahrhundert wiederholt direkt beeinflusst, speziell von
der NS-Macht- und Verfolgungspolitik. Biografische Artefakte
und Archivmaterial aus mehreren Ländern wie auch die (teils
publizierten) Ergebnisse von Wittlins lange währender wissen¬
schaftlicher Tätigkeit (bis weit in ihre 80er Jahre)'' belegen, dass
sie, neben vielen Aufenthaltsorten, sehr unterschiedliche institu¬
tionelle Strukturen und kulturelle Kontexte erlebte. Es lässt sich