OCR Output

Verena Mermer

Gedichte

die arbeitslose

löcher in die wand starren und dem eigenen schatten beim nichts¬
tun zusehen bei so genannten alibi-tätigkeiten / stellen: anzeigen
sichten filtern sortieren bewerben. hoffen auf antwort oder fern¬
sehen. dämmerzustand und aufstehen als überwindung. das ist alles

die architekturstudentin

unvollständig wirkende grundrisse von griinderzeitwohnungen
schließen der augen rekonstruieren, was fehlt: kinderzimmer salon
schlafgemach. halbiert gedrittelt geviertelt arisiert / und immer
die frage: ist die familie rechtzeitig in die usa, nach brasilien...?

online-journal: 1 studie über 1160 wien. peripherie. gastarbeiter¬

quartiere von gestern, heute als hauptmiete für drei oder fünfjahre

zu haben. neu renoviert notdürftig umgebaut substandard.
herunter¬

gekommene fassaden. 1 graffito: saubere wände = höhere mieten

platten aus polystyrol und karton. folie cutter stecknadeln farbstifte

3-D-modelle / die kalkulation von 2 stunden schatten. stadtplan
und

lokalaugenschein. in der sonntagszeitung: neues hochhaus mit hiifi¬

knick und schattentrick in wien | wer 2018/19 dort einziehen wird?

die bauarbeiterin

ziehe den blaumann an / das arbeits¬
gewand, die uniform. die blaufrau
ausnahme am bau: 38er stahlkappenschuhe
ihr schatten: 20 cm breiter noch als zuvor

sie verlässt die umkleide. fünf uhr

früh. überprüft gerüste auf augen¬

fällige mängel. metall und holz:

dunkles gitter auf hohlblocksteinen. rücken¬

schmerzen. linien ziehen im kopf: ihr umriss, blaumann
an der außenwand. er bewegt sich schnell. er trägt.
nimmt die kelle. trägt verputz auf. trägt. nimmt.

trägt auf... (linien verschwinden. restlicht auf beton)

die fotografin

gesichter: vom licht leicht gestreift

nur konturen / vgl.: architekturkalender, vorjahr
streiflicht: zustandserfassung von oberflachen;
aufnahmen der schuhabdriicke am tatort

silhouetten: die schwarze flache. annahernd 180°
reste von dingen und menschen; 13 x 18
gegenlicht: transparente objekte, spiegel, strukturen
nachträglich retusche sechseckiger reflexionen

schatten: was ihn wirft, darf verschwinden / ausschnitt
am fuße der hauswand ein knick: das bein des modells
seitenlicht: motiv mit konturen, hell und dunkel —
licht auf schwarz, heller als schatten auf weif.

die pensionistin

24.3.: rezeptgebühren befreiung ansuchen / seit wann: das zittern

in der handschrift? das bücken zunehmend anstrengender der sch¬

behelf hilft immer weniger. aber andere in ihrem alter. blumen
gießen, nacht¬

schattengewächse / das vergrößerungsglas suchen gehen. wenige
seiten lesen

Verena Mermer, geb. 1984 in St.Egyden am Steinfeld (Niederös¬
terreich). Studium der Germanistik, Romanistik und Indologie. Ar¬
beitsaufenthalte in Delhi, Baku und Cluj-Napoca. Lebt und arbeitet
als Autorin und Literaturwissenschaftlerin in Wien. Veröffentlichun¬
gen in Literaturzeitschriften, u.a. „Lichtungen“ und „perspektive“.
Longlist Europäisches Poesiefestival 2013. Shortlist Wartholz 2014.
START-Stipendium für Literatur 2014. Roman: „die stimme über
den dächern“ (2015).

Juni 2017 43