OCR
Einzelzelle bedeutet all die unvollendeten Momente der Verliebtheiten deines Lebens ins Gedächtnis zu rufen Wer war wirklich schuld daran, ich oder du? Welchen Unterschied macht das... Nun umarmt dich die Einzelzelle Nach neunzehn Uhr Telefon im Gefängnis draußen ein tödlicher Lärm! Ich schwöre, wir alle hassen dieses Läuten Du wartest, welcher Code wiederholt wird Du zählst die Schritte sie kommen näher deine Zellentür wird geöffnet! Das ist die Nacht deiner Vernehmung und das bedeutet fünf Stunden pausenlos befragt zu werden und zu antworten nicht beantwortete Fragen und Antworten ohne Fragen Wiederholung, Wiederholung und Wiederholung Du hast alle diese Wiederholungen samt Beleidungen und Demütigungen satt aber du willst keinem deiner Freunde nicht einmal eine Sekunde lang diese Einzelzellen und Vernehmungen diese Erfahrungen bringen und genau das wird dein Verbrechen sein! Einzelzelle bedeutet aus allen Schritten ein Zeichen herauszuhören Das Weinen des jungen Mädchens im Hof in der verordneten Zeit des Frischluftholens Sie ist seit zwei Tagen hier Wie sie die weißen und roten Rosen im Blumentopf erblickt weint sie wieder, so hast du selber am Tag deiner Einlieferung geweint und geweint du drückst deinen Kopf an die Klappe in der Zellentür damit du die Anzahl der Häftlinge erfassen kannst... eins zwei, drei, vier Ach, wie schlimm ist die Einzelzelle! Die Gedanken nehmen kein Ende die endlosen Sorgen um all deine Taten ob du sie nun verübt hast oder nicht lächerlich paradieren sie vor deinen Augen du versuchst zu schlafen die Menge deiner Schlafmittel wächst aber immer wieder um Mitternacht wachst du auf von dem Weinen eines Mannes der in der Zelle unter der deinen liegt Vieles schmerzt hier du weinst ungewollt. Weswegen? Wegen ihm? Wegen dir? Wegen uns allen! Erst jetzt verstehst du dass das gelegentliche Flackern der Leuchtstoflampe das unerhörteste Ereignis deines Lebens ist du verbringst jetzt die Zeit mit ihm Mitternacht des neunundzwanzigsten Tages im Ewin-Gefängnisses, Abteilung 2, Alef-Sepah, Sommer 2011 Mahnaz Mohammadi, iranische Filmemacherin, verfasste bereits als Fünfzehnjährige Radiobeiträge. Ihre Dokumentarfilme zeigen Frauen in der traditionell frauenfeindlichen (iranischen) Gesellschaft. Ihre Filme sind, ebenso wie ihre Lyrik, die sich mit denselben Themenkomplexen beschäftigt, Ausdruck ihrer politischen Gesinnung. Ihr wurde im Iran wiederholt der „Vorwurf“ gemacht, Anomalien zu enthüllen und die bitteren Lebensumstände von Frauen zu beschreiben. Von 2005 bis 2011 mehrere Male im Gefängnis; 2014 wegen „Gefährdung der nationalen Sicherheit“ zu einer siebenjährigen Hafistrafe verurteilt. Erhielt 2015 den Dr. Georg Lebiszckak-Preis. — Das Gedicht ist entnommen der von Nahid Bagheri-Goldschmied herausgegebenen Anthologie persischer Lyrik der Gegenwart „Die Liebe kennt alle Sprachen der Welt“. Juni 2017 45