22-jährigen Kasbergen, der im niederländischen Widerstand orga¬
nisiert war, die kleine Gruppe an einem nahegelegenen Bauernhof
unterzubringen, mit Essen zu versorgen und zu verstecken. Mit
dabei war auch noch Hellmanns damals siebenjähriger Sohn Paul.
Am nächsten Morgen führte ein 15-jähriges Mädchen die
Gruppe in den Wald, nur Minuten, bevor Nationalsozialisten
auftauchten. Dort wurden sie in einem aufgelassenen Grab ver¬
steckt. Kasbergen, der mutige Polizist, konnte das völlig ver¬
zweifelte Ehepaar Hupka nicht nur im letzten Moment davon
abhalten, Selbstmord zu begehen. Er arbeitete mit Kollegen vom
Widerstand auch noch einen Plan aus, wie die beiden nicht mehr
jungen Leute — Josef Hupka war bereits 67, seine Frau Hermine
54 Jahre alt — unentdeckt nach Amsterdam gebracht werden
könnten. In seinen Erinnerungen, die 1987 unter dem Titel Oranje
marechausee [Orange/Niederländische Militärpolizei] erschienen,
zweifelte Kasbergen allerdings, ob es richtig gewesen war, das
Ehepaar Hupka vom Selbstmord abzuhalten.
Paul Hellmann und sein Vater sahen einander rund um den 13.
November 1942 zum letzten Mal. Paul Hellmann überlebte den
Krieg dank mehrerer glücklicher Fügungen bei einer niederländi¬
schen Familie. Sein Vater hingegen wurde kurze Zeit nach dem
Fluchtversuch verraten. Ende März 1943 deportierten ihn die
nationalsozialistischen Schergen mit 1.263 weiteren Menschen
ins Konzentrationslager Sobibör. Bernhard Hellmann gehörte zu
den 1.200 Personen in diesem Zug, die den 2. April 1943 nicht
überlebt haben.
Josef und Hermine Hupka haben die Monate nach ihrem
gescheiterten Fluchtversuch vermutlich in permanenter Angst
verbracht, verraten und entdeckt zu werden. Im Frühling 1944
wurden auch sie von den nationalsozialistischen Besatzern fest¬
genommen. Die besonders brutale Verfolgung der Jüdinnen und
Juden in den Niederlanden stand im Übrigen unter der Leitung des
aus Wien stammenden Reichskommissars Arthur Seyß-Inquart.
Der ehemalige Rechtsanwalt, Kurzzeitkanzler und hochrangige
SS-Offizier hatte ziemlich genau 30 Jahre zuvor als Jus-Student
Vorlesungen bei Josef Hupka an der Universität Wien gehört.
Hermine und Josef Hupka kamen so wie etwa ein Jahr zuvor
Bernhard Hellmann ins berüchtigte Durchgangslager Westerbork,
von wo aus die Züge in die Konzentrations- und Vernichtungslager
in Osteuropa abfuhren. Am 5. oder 7. April wurden die beiden mit
Transport XXIV/5 und 285 anderen Verfolgten ins KZ Theresien¬
stadt/Terezin deportiert. Hier endete die lange Leidensgeschichte
von Josef Hupka am 23. April 1944.“ Die genauen Umstände
seines Todes sind nicht bekannt. Für seine Frau Hermine war das
Martyrium immer noch nicht zu Ende: Die Nationalsozialisten
deportierten sie am 9. Oktober 1944 von Theresienstadt nach
Auschwitz, wo sie zwei Tage später ermordet wurde.
All das erfuhr der Militärpolizist van Kasbergen nach 1945
vom Roten Kreuz. Angesichts der traurigen Tatsachen hatte er
Gewissensbisse, dass er Josef und Hermine Hupka im November
1942 vom Selbstmord abgehalten hatte, wie er in seinem Me¬
moiren festhielt: Denn mit seiner tapferen Rettungstat hatte er
bloß ihre Leidenswege verlängert. Er selber, ein Held mit hohen
moralischen Ansprüchen, starb am 4. Februar 2014.
Wenige Wochen nach van Kasbergens Tod und Hupkas 70. To¬
destag veröffentlichte der Autor dieses Texts eine Kurzfassung
seiner Recherchen.“ Es war dies der erste Artikel über den einzi¬
gen Ordinarius der Universität Wien, der in einem Ghetto/KZ
zu Tode kam. Immerhin kam es danach zu einer allmählichen
Wiederentdeckung Hupkas: So publizierte Thomas Olechowski
2014 eine Wüdigung Hupkas aus rechtswissenschaftlicher Sicht.”
Zudem wurde ein Wikipedia-Eintrag über Hupka verfasst. 2015
fand im Rahmen der 650-Jahr-Feier der Universität Wien 2015
eine von Franz-Stefan Meissel und Thomas Olechowski kura¬
tierte Ausstellung unter dem Titel Bedrohte Intelligenz statt, die
auch auf Josef Hupka und sein tragisches Schicksal einging.*' Die
Zeithistorikerin Linda Erker dokumentierte ebenfalls 2015 in
einem Aufsatz Josef Hupkas Engagement zugunsten verprügelter
Studierender.’
Schließlich benannte die Rechtswissenschaftliche Fakultät unter
der Leitung von Dekan Paul Oberhammer im gleichen Jahr ein
Sitzungszimmer nach Josef Hupka um. Anlässlich der Festver¬
anstaltung, die am 14. April 2015 begangen wurde, würdigten
Dekan Oberhammer und Franz-Stefan Meissel, Professor für
Römisches Recht, in Vorträgen die Bedeutung Hupkas als Dekan
und Rechtswissenschaftler.”° Anlässlich der Veranstaltung, die von
der Wiener Rechtshistorischen Gesellschaft organisiert wurde, war
auch eine Kurzfassung des vorliegenden Textes zu hören. Stephen
Parkinson, ein Enkelsohn Josef Hupkas, kam aus Oxford angereist
und brachte der Fakultät als Geschenk einen Originaldruck jenes
Porträts seines Großvaters mit, das Ferdinand Schmutzer 1916
anfertigte und das seit April 2015 im Josef-Hupka-Zimmer der
Universität Wien hängt.
Klaus Taschwer, geb. 1967, ist Wissenschafisredakteur der Tageszei¬
tung „Der Standard“ und u.a. Verfasser der Bücher: Die andere Seite
des Spiegels. Konrad Lorenz und der Nationalsozialismus (zusam¬
men mit Benedikt Föger, 2001); Hochburg des Antisemitismus. Der
Niedergang der Universität Wien im 20. Jahrhundert (2015); Der
Fall Paul Kammerer. Das abenteuerliche Leben des umstrittendsten
Biologen seiner Zeit (2016).
1 Dieser Aufsatz ist die überarbeitete Fassung des demnächst erscheinenden
Artikels „Kämpfer gegen den Antisemitismus und Opfer der Shoah. Leben
und Sterben von Josef Hupka (1875 — 1944), Ordinarius für Handels_] und
Wechselrecht an der Universität Wien“. In: Johannes Koll (Hg.): ‚Säuberungen‘
an österreichischen Hochschulen 1934-1945. Voraussetzungen, Prozesse,
Folgen. Wien 2017, 434-460. Der Autor bedankt sich herzlich bei Andrew
Parkinson, Stephen Parkinson (Oxford) und Reverend A.J. Parkinson (Newton
Abbott) für das großzügig übermittelte Fotomaterial aus dem Familienarchiv
und die Familienerinnerungen, bei Paul Hellmann (Rotterdam) für die Hilfe
bei der Rekonstruktion der Fluchtgeschichte und zahllose andere Hinweise, bei
Linda Erker (Wien), Sophie Lillie (Wien), Anja Sattelmacher (Berlin), Johannes
Feichtinger (Wien), Oliver Hochadel (Barcelona), Johannes Koll (Wien), Tho¬
mas König (Wien), Franz-Stefan Meissel (Wien), Thomas Olechowski (Wien),
Oliver Rathkolb (Wien) und Christian Stifter (Wien) für zahlreiche Hinweise
und Verbesserungen.
2 Archiv der Universität Wien, Senat S 305.113, 9, Blatt 22-23.
3 Biografische Detailszu Hupka finden sich in einschlägigen Nachschlagewerken
wie dem Österreichischen Biographischen Lexikon oder in Marcel Klang (Hg.):
Die geistige Flite Österreichs. Ein Handbuch der Führenden in Kultur und Wirt¬
schaft, Wien 1936, 395. Es istbemerkenswert, dass in den zahlreichen Texten zur
Vertreibung der Lehrkrafte an der Juridischen Fakultätsowiezum Antisemitismus
an dieser Fakultat Josef Hupka—dem einzigen Ordinarius unter allen NS-Opfern
der Universitat Wien, der in einem Konzentrationslager umkam — bis zu einem
Text von Thomas Olechowski im Jahr 2014 nicht mehr Aufmerksamkeit zuteil
wurde. Vgl. Thomas Olechowski: Josef Hupka. In: Ders./Tamara Ehs/Kamila