war taktvoll genug, dem armen Juden das nicht
anzutun.“ Kurz darauftritt sie aus Karrieregrün¬
den der NSDAP bei und jammert über die 10
Reichsmark, die ihr das kostet. Damals verdient
sie nur 55 RM. Aber bald werden es über 250 sein,
und sie wird sich sogar ein Kleid im besetzten
Frankreich anfertigen und zuschicken lassen. Der
Eintritt als Sekretärin ins Büro von Goebbels sei
fiir sie — wie aber nur dem Buch zu entnehmen
ist — ein erzwungener gewesen, ansonsten hät¬
te sie Repressalien fürchten müssen. Im Film
kommt diese absurde Aussage nicht vor, da solche
Schutzbehauptungen hinlänglich bekannt und
durch nichts belegt sind. Zusätzlich entwickelt
sie vor ihrem ersten Arbeitstag im Reichspropa¬
gandaminsterium hektische Aktivität. „Jedenfalls
habe ich mir am ersten Abend noch irgendwo
ein Parteiabzeichen organisiert für den ersten
Tag.“ Danach sieht sie Goebbels fast täglich,
über den sie mehrere Male bewundernd spricht.
„Ein Mann, der Haltung hatte.“ Dass sie bei der
berüchtigten Sportpalastrede 1943 im Saal war,
versteht sich von selbst. Sie hat — nach eigener
Aussage — aber nicht gejubelt, sondern spricht
davon, dass es „ein Naturereignis“ war. „Die
Menge konnte nichts dafür. Sie war von einem
einzigen Menschen behext worden.“ Weder die
Filmemacher noch der Buchherausgeber stellen
richtig, dass im Saal nur ausgewählte, überzeugte
Nationalsozialisten saßen.
Manchmal kommen ihre Lügen und Halb¬
wahrheiten aber doch zum Vorschein. Vor dem
Verhör nach ihrer Verhaftung 1945 überlegt sie,
ob sie lügen oder die Wahrheit sagen soll. „Ich
habe mir gedacht, ich sage die Wahrheit. Ich
sage, ich habe dort gearbeitet. Natürlich nicht
als Sekretärin, ich war eine Stenotypistin im
Bei einem Familientreffen erhielt die Autorin
Regina Gottschalk, selbst eine geborene Ge¬
treuer, ein Konvolut alter Briefe. Diese Briefe
wurden zwischen 1938 und 1945 von Heinrich
und Frieda Getreuer geschrieben und waren
hauptsächlich an ihre ins Ausland geflohenen
Kinder gerichtet. Nachkommen hatten die Brie¬
fe über sechzig Jahre lang aufbewahrt, konnten
sie aber, da sie auf Deutsch und hauptsächlich
in Kurrentschrift verfasst waren, nicht lesen,
und so baten sie Regina Gottschalk, ihnen über
den Inhalt der Briefe Auskunft zu geben. Ein
erster Blick auf die Briefe war für die Autorin
jedoch etwas enttäuschend, die Briefe wirkten
inhaltsleer, ja monoton, die darin erwähnten
Personen waren oft nicht zuordenbar, Andeu¬
tungen unverständlich. Doch umfangreiche
historische Recherchen, Erinnerungen anderer
Familienmitglieder und nicht zuletzt die Gabe
der Autorin, die Briefe darin einzubetten, liefen
schließlich die Geschichte einer jüdischen Fami¬
lie in den 1930er und 1940er Jahren in diesem
lesenswerten Buch wieder lebendig werden.
Propagandaministerium bei diesem schrecklichen
Dr. Goebbels. Ich habe ihn nie gesehen.“
Ärgerlich sind auch ihre Aussagen zum Wider¬
stand. „Es war nicht möglich, dagegen zu sein.
Sein Leben einzusetzen ... Das war dumm von
ihnen!“ Wenn die Mitglieder der „Weißen Rose“
das nicht gemacht hätten, lebten sie noch heute.
„Ich könnte keinen Widerstand leisten. Ich gehörte
zu den Feigen.“ Es gibt also nur das Profitieren
von der NS-Herrschaft oder den Widerstand.
Dazwischen gibt es nichts, denn „das ganze Land
war wie unter einer Glocke. Wir waren ja alle
selber ein riesiges Konzentrationslager.“
Es gäbe noch vieles zu erwähnen, so ihr auch
noch im Interview und Buch zu spürender la¬
tenter Antisemitismus. Im Film kommt aber im
Gegensatz zum Buch lediglich der „Judenzinken“
ihrer jüdischen Jugendfreundin Eva Löwenthal
zur Sprache. Deren Schicksal beschäftigt sie dann
doch. „Und dann war Eva plötzlich weg ...
Die gehörte wohl zu den Leuten, die weggeholt
worden waren ... Und wenn sie im KZ war, war
sie jasicher. Wusste ja keiner, wie es da zuging.“
Eva Löwenthal wird Anfang Jänner 1945 in
Auschwitz ermordet.
Sowohl die Filmmacher als auch der Herausgeber
des Buches wollen auf Parallelen zur Gegenwart
verweisen, vor allem aufden stärker werdenden
Rechtspopulismus. Dass dieser leider erstarkt,
ist unbestritten, aber warum man zur Warnung
davor eine Profiteurin des NS-Terrorregimes
braucht, wird nicht verständlich. Natürlich lebt
Geschichte vom Vergleich, aber dieser ist schlicht
und einfach unbrauchbar.
Und zuletzt der größte Kritikpunkt am Film. In
ihn werden mehrere Sequenzen von Originalfilmen
aus den 1920er bis 1940er Jahren hineinmontiert.
Wohl hatte man den Aufstieg der National¬
sozialisten im nahen Deutschland nicht zuletzt
wegen der dort lebenden Verwandten aufmerk¬
sam und mit Sorge mitverfolgt, die Annexion
des Sudetenlandes an das Deutsche Reich im
Oktober 1938 kam dann aber doch für viele
überraschend. Ungefähr 30.000 Juden lebten zu
diesem Zeitpunkt in diesem Gebiet, sie - und
mit ihnen Heinrich und Frieda Getreuer sowie
deren weitverzweigte Familie — befanden sich
plötzlich in großer Gefahr.
Den Getreuers gehörte in Schwanenbrückl
(Mostek), einem kleinen Dorf nahe der bairi¬
schen Grenze, ein Kaufhaus und ein Spitzen¬
großhandel. Die Familie war schr angesehen,
Heinrich Getreuer als Gründer der freiwilligen
Feuerwehr und seiner hilfsbereiten Art wegen
hochgeachtet und beliebt. Von den vier Kin¬
dern Heinrichs und Friedas starb Else bereits
1937 mit nur 24 Jahren an einer Hirnhautent¬
zündung. Rose war mit dem Münchner Kauf¬
mannssohn Josef Abeles verheiratet und lebte
mit ihm und der Tochter Ruth in München,
Louise führte mit den Eltern das Geschäft, der
Darunter auch „Leichenbergfilme“, die schreckli¬
cher nicht sein könnten. Man siehtetwa Aufnahmen
- vermutlich aus dem Warschauer Ghetto -, die
Manner der Leichenkommandos zeigen, wie sie
nackte, zum Skelett abgemagerte Menschen auf
Karren werfen und zu einem Massengrab führen.
Dort sieht man dann minutenlang Leichen eine
Rutsche in die Grube hinuntergleiten und zwei
Männer, die sie hineinschlichten müssen. Das
ist selbst für Erwachsene unerträglich, aber vor
allem in der schulischen Holocausterziehung
undenkbar. Jahrelang haben DidaktikerInnen
aufdie SchulbuchautorInnen eingewirkt, damit
Leichenbergfotos aus den Büchern verschwinden,
denn Schock bringt erwiesenermaßen keinen
Lernerfolg - und doch sind sie in diesem Film
vermehrt zu finden. Es ist zu hoffen, dass Ös¬
terreichs LehrerInnen diesen Film auch deshalb
nicht zu Unterrichtszwecken einsetzen.
Letzter Nachsatz: Von 1950 bis zu ihrer Pensi¬
onierung 1971 arbeitet Brunhilde Pomsel wieder
als Sekretärin, nun im Südwestfunk SWE und
steigt bis zur Chefsekretärin auf. Ihr Chef, Lothar
Hartmann, vormals NS-Kriegsberichterstatter,
brachte in den 1950er Jahren eine Reihe von ehe¬
maligen NationalsozialistInnen zum Rundfunk.
Martin Krist
Brunhilde Pomsel, Thore D. Hansen: Ein deutsches
Leben. Was uns die Geschichte von Goebbels Sekre¬
tärin für die Gegenwart lehrt. Berlin, München,
Zürich, Wien: Europaverlag 2017. 205 5. € 19,50
Ein deutsches Leben (Christian Krönes, Olaf S.
Müller, Roland Schrotthofer, Florian Weigensamer
ÖID 2016), 113 Minuten.
jüngste und einzige Sohn Walter studierte in
Prag Medizin. In den 1980er Jahren schrieb Rose
für eine Clubzeitschrift mehrere Artikel über ihre
Kindheit, von Louise gibt es handschriftliche
Erinnerungen, die sie in ihren letzten Lebens¬
jahren verfasste. In diesen auf Englisch verfass¬
ten Texten beschreiben die beiden Schwestern
ihre Kindheit und Jugend in dem idyllischen
Schwanenbrückl, das große Haus mit Garten
und seinen großzügigen Gastgebern als beliebten
Treffpunkt und Urlaubsort einer großen Familie.
Die Getreuers waren die einzige jüdische Familie
in dem deutschsprachigen Ort und, obwohl
nicht streng religiös, hielten sie die Feiertage
ein. Durch den Nationalsozialismus wurde ihr
Judentum für sie wieder bedeutsamer, während
der Verfolgung fanden sie Halt und Hoffnung
im Glauben. Walter Getreuer schildert in seinen
teilweise erhaltenen Tagebüchern aus den Jahren
1935 bis 1938 jene Zeit. Wie viele ihrer Ver¬
wandten floh die Familie von einem Tag auf den
anderen ins vermeintlich sichere Landesinnere,
zunächst nach Pilsen, im September dann nach
Prag. Der Besitz schrumpfte auf das zusammen,