besteht, zu vergessen, dass es sich bei dem
Buch um einen Roman handelt und um kei¬
ne Autobiographie, keine Aufzeichnung eines
Interviews.
Der Ich-Erzähler — oder doch etwa der Autor?
— warnt uns sogar vor seinem Trick: Die Nach¬
barin des Ich-Erzählers fragt ihn nach einer Aus¬
landsreise, von der sie in einem seiner Romane
gelesen hat. Der Roman „Eine sehr kleine Frau“
über Paul Spielmann ist echt und das Gespräch
mit der Nachbarin ist so natürlich erzählt, dass
man sofort davon auszugehen versucht ist, es
habe sich genau so zugetragen.
Nein, liebe Frau S., sage ich, das war nicht ich,
das war ein gewisser Paul Spielmann.
Und das sind nicht Sie, fragt sie.
Nein, sage ich, das ist der Erzähler.
Also eigentlich doch Sie, sagt sie.
Nein, sage ich, eigentlich nicht...
Jetzt hören Sie aber auf, sagt sie. Halten Sie
jemand anderen zum Narren! Wenn so ein Autor
ICH schreibt, dann denke ich selbstverständlich,
es handelt sich um ihn.
So ein Autor. Was die — fiktive! oder doch
realistische? — Frau S. hier meint, ist das brillante
Können Henischs, uns so tief in die Ich-Perspek¬
tive zu führen, dass wir nicht anders können, als
ihn selbst als den Ich-Erzähler aufzufassen, nicht
nur als eine Basis für den Ich-Erzähler oder gar
eine Figur in einem Roman.
Wenn auf der einen Seite des Erzählpers¬
pektivenspektrums das distanzierte Allwissen
liegt, in der Mitte das personale Erzählen in der
dritten Person mit Einblicken ins Innenleben
der Hauptfigur, und auf der der auktorialen
Erzählperspektive gegenüberliegenden Seite die
Ich-Perspektive, ist die Stimme des Ich-Erzählers
so weit an deren Rand geschoben, dass in den
„Gegenwartspassagen“ nicht mehr viel bis zum
inneren Monolog fehlt.
Und dann machen wir eine Zeitreise in die
Kindheit des Ich-Erzählers, beschrieben als ein
Mosaik, das sich aus Erzählungen und eigenen
Erinnerungen zusammenfügt. Was er nur selbst
berichtet bekommen hat, wiederholt er im Kon¬
junktiv eins. Das, bei dem er dabei war, kann er
nur lückenhaft wiedergeben, wie wir das alle von
unseren Kindheitserinnerungen kennen. Es ist
ein sanfter, märchenhafter Ton, der uns in diese
Welt einführt. Schon damals schaute der Ich¬
Erzähler aus dem Fenster auf die Straße und die
Bilder dieser Wiener Straße in den frühen Nach¬
kriegsjahren wecken ein historisches Interesse,
als würde man den Großeltern lauschen, die aus
einer fernen Zeit berichten. Den einfühlsamen
Beobachtungen aus der Vergangenheit ist die
Detailliertheit mancher Passagen zu verdan¬
ken, die natürlich auch alle glatt erfunden sein
könnten. Doch aus Gewohnheit an die nahtlose
Erzählweise des Fiktiven kommt diese Frage erst
bei genauer Betrachtung des Textes auf.
Auch die Katze, die der Ich-Erzähler beobach¬
tet, ist eine Beobachterin: „Ganz Aufmerksam¬
keit. Ihre Augen spähen. Ihre Ohren lauschen.“
Der Ich-Erzähler nimmt sich viel Zeit für sein
Betrachten der Aussicht. Er macht Spaziergänge,
um „in Bewegung zu bleiben“, erinnert non¬
chalant an sein Alter, dem vielleicht auch seine
Vergesslichkeit zuzuschreiben ist. Er kennt den
Wochentag nicht und vergisst einen Interview¬
termin. Manchmal verfällt er in eine gewisse
Sentimentalität des Alters. Dann wieder erzählt
Dieses Buch ist direkt auf Du mit den Lesenden,
schon auf dem Cover steht: „Wie du dich mit
guten Argumenten gegen dumme Behauptun¬
gen wehrst.“ In dieser Formulierung steckt auch
noch ein anderer Aspekt: es heißt nicht „wehren
kannst“, sondern „wehrst“ und impliziert damit,
dass das Buch einen dazu bringen wird, dass man
sich von nun an gegen dumme Behauptungen
wehrt, wehren soll. Unterstrichen wird das noch
einmal durch den knappen Titel, der ebenfalls
eine klare Position enthält: Es geht hier nicht
„um“ Vorurteile — dieses Buch hat es sich zur
Aufgabe gemacht, gegen Vorurteile vorzugehen.
Diese beiden auf dem Cover zu findenden
Ansätze werden im Buch konsequent weiterver¬
folgt: Die persönliche Ansprache schlägt sich im
Folgenden in einer direkten, unverstellten Kom¬
munikation mit den Lesenden wieder, die auch
eventuelle Bedenken und Fragen vorwegnimmt
und einbaut und sich nicht in theoretischen
Spitzfindigkeiten verliert, sondern in einfachen,
umfassenden Erklärungen - in denen auch Platz
für eingeflochtene Bedenken und Relativierun¬
gen bleibt - die Sachverhalte darlegt, mit vielen
Anknüpfungen an das eigene Lebensumfeld, die
eigene Lebenswirklichkeit.
Die Haltung, die sich im „gegen“ des Titels
ausdrückt, wird in der in jedem Kapitel vorge¬
nommenen starken Differenzierung der Materie
deutlich, die sich in einigen Fällen letztendlich
sogar nicht unbedingt gegen die Problemati¬
sierung des Gegenstandes ausspricht, sondern
dagegen, dass dies unter falschen Voraussetzun¬
gen und mit einer eindeutigen, simplifizierten
Ursachenbezeichnung und ebensolchen Lö¬
sungsansätzen einhergeht.
Man könnte jetzt fragen: was ist so schlimm
an Vorurteilen? Nun, es wurde schon einmal von
einem deutschen Dichter sehr klug angedeutet:
Der wahre Teufelshandel
und jeden Übels Anfang:
Die Menschen urteilen vorschnell,
korrigieren sich aber nur langsam.
er in klarem Ton, ohne zu dramatisieren, von
der ausgebombten Familie und der Lebensmit¬
telknappheit nach dem Zweiten Weltkrieg. Die
Geschichte iiber den Tauschhandel, iiber den der
Vater des Ich-Erzählers an einen guten Mantel
kommt, der ihm zwar viel zu groß ist, aber den¬
noch so wertvoll, dass er gegen eine Wohnung
getauscht werden kann, führt im Vergleich zur
heutigen Wegwerfgesellschaft die damalige Ar¬
mut vor Augen.
Liebevoll berichtet der Ich-Erzähler von seiner
Familie. Henischs Vater war ein erfolgreicher
Fotograf während des Nationalsozialismus und
danach. Die Orte in Wien, der Naschmarkt und
die Straßennamen, sind jenen LeserInnen, die
die Stadt kennen, ein persönlicher Anknüp¬
fungspunkt.
Wenn die Band „Frittenbude“ singt, dass es
„da draußen“ nichts gäbe, hat sie unrecht. Ja,
die Straße ist ruhig. Doch bei der Fortsetzung
der Lektüre von „Suchbild mit Katze“ tun sich
kleine Welten auf. Es ist ein Sich-Verlieren in der
Überfülle des Suchbilds, ein Entdecken, Erken¬
nen, nicht ohne zu zweifeln. Und womöglich ist
es am Ende gleichgültig, was für einen Namen
der Ich-Erzähler trägt und zu wie viel Prozent
er mit dem Autor übereinstimmt.
Henisch schreibt, der Ich-Erzähler spricht:
Peter. Oder soll ich den kleinen Buben, der am
Fenster steht oder kniet, lieber Paul nennen? Peter
oder Paul, der sich der Katze, mit der er aus dem
Fenster schaut, sehr nahe fühlt.
Maya Rinderer
Peter Henisch: Suchbild mit Katze. Roman. Wien:
Deuticke im Zsolnay Verlag 2016. 208 S. € 20,60
Es ist jedoch nicht nur die Tatsache, dass ein¬
mal gefällte Vorurteile ganz schwer wieder von
der Stelle zu bewegen sind und so zu dauerhaf¬
ten, sich im schlimmsten Fall noch vertiefen¬
den Gräben zwischen Bevölkerungsgruppen,
Ländern, Gemeinschaften etc. führen, sondern
auch die Tatsache, dass, wie die AutorInnen des
Buches zu Anfang feststellen, Vorurteile Reali¬
täten bedingen und erschaffen. Was von außen
an uns herangetragen wird, das wird Einfluss
auf unser Selbstverständnis nehmen und im
schlimmsten Fall noch Generationen später die
Wahrnehmung unserer Nachfahren prägen —
das ist u.a. eines der Ihemen in Shakespeares
Othello.
In 22 Kapiteln werden aktuell schr mit Vor¬
urteilen belastete und viel diskutierte Bereiche
wie die Situation von aus anderen Ländern
stammenden Mitbürgern, der Umgang mit
Geflüchteten, Jugendkriminalität, Islam, EU,
sowie Homosexualität als Krankheitsbild und
Holocaustleugnung abgehandelt. Bei Letzteren