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Nur der ferne Vogel schreit

in die Welt sein dunkles Leid,
ch‘ der bleiche Mond erwacht.
(Werkverzeichnis 8)

Die Nacht und der bleiche Mond wirken auf Fried bedrohlich. Für
ihn verstummt der Tag unter der Macht der Nacht. Der schreiende

Vogel tut, was sich der Dichter selbst fast immer versagt, schreit
Leid und Tod hinaus.

Es gibt aber auch Gedichte, in denen Carl Fried Halt und Selbst¬
vergewisserung findet, das sind insbesondere Liebeserklärungen
an seine Frau Trude. Dort wird eine dunkle Kulisse zum Ende
durch einen tief empfundenen Trost aufgelöst”.

Anknüpfend an die familiäre Zwischenmenschlichkeit vermis¬
sen wir ein deutlicheres soziales Engagement, und das gerade
bei einem Arzt, der gemeinsam mit seinem Freund Siegmund
Hadda Forderungen für einen gerechteren Umgang mit sozial
Schwachen formuliert hat. Doch Fried war in Brasilien als gedul¬
deter Ausländer jüdischer Abkunft, in der zeitweise verbotenen
deutschen Sprache dichtend, einer vermehrten Überwachung
seiner Person ausgesetzt. Der allmächtige Staatschef Vargas duldete
keine Einmischung in politisch-soziale Diskussionen, da er sich
selbst als „Pai dos Pobres“ (Vater der Armen) präsentierte. Fried
spricht solche Themen nur ausnahmsweise an, und zwar in einer
Ballade, die in ihrem naturalistischen und expressiven Stil an
den frühen Gottfried Benn oder an Bertold Brecht erinnert: Mit
Ausführlichkeit schildert er den bedauernswerten „Weichensteller
Ferdinand“ (Werkverzeichnis 4), der gleichzeitig am Verlust der
Hörkraft und am Verschleiß seiner Gelenke leidet. Er erkenntein
Ungewitter von brasilianischem Ausmaß zu spät und ist unfähig,
sich zu retten:

Im Arbeits-, nicht im Totenhemd,
dem einzigen, dass er besessen,
hat ihn der Regen fortgeschwemmt
ins Meer und ins — Vergessen.
Insgesamt ist die Beschäftigung mit Brasilien für Fried keines¬
wegs ungewöhnlich oder selten. Die Bilder sind abwechslungsreich

und lebendig.

Frieds Versuche mit neueren Gedichtformen

Es tauchen bei Carl Fried auch Ausnahmen von der bevorzugten
Konvention auf. Woher kommt der fremde Einfluss? Zum Beispiel:

„Pentamen“ nennt Fried eine „neue Gedichtsform“ mit einer
Silbe in der ersten Zeile, zwei Silben in der zweiten, drei in der
dritten, fünf in der vierten, acht in der letzten Zeile. (Er weist auf
die parabolische Linie hinter den Zeilen hin).

„Schrei“

Schrei,

willst du

gehört sein

im Taumel des Tags,

dass andre dich nicht überschrein.
(Werkverzeichnis 40)

26 _ ZWISCHENWELT

In Form? und Inhalt ist dieses Gedicht überraschend. Er, der
Meister des Kompromisses, des gütigen Ausgleichs, fordert
den Aufschrei. Das steht auch in Kontrast zur Meinung einiger
Deutsch-Brasilianer, Fried habe niemals über (persönlich erlittenes
oder soziales) Unrecht gesprochen””. Man könnte den Einfluss
von Paula Ludwig” vermuten. Sie besuchte den schon zitierten
literarischen Kreis in Säo Paulo gerne und verehrte — nach dem
Zeugnis von H. Helwig- Carl Fried. Ohne Zweifel ist Fried mit
der Dichtung von Paula Ludwig, die so anders war als die von
Louise Bresslau, in Kontakt gekommen.

Ausschnitte von drei Paula Ludwig-Gedichten’',in denen sie
keine Überschriften und fast keine Satzzeichen verwendet:

Darum zürnt mir nicht

wenn ich euch nicht antworte.

Aber ich habe meinen Mund verschlossen

dass in meiner Kehle der Schrei nicht ausbreche.

Oh dein Mund
wenn er nach mir schreit
weh
ewigkeitenlang
umsonst
. und schreie mein Lied,
das einzige was du mir ließest,
in das verödete Land.

Das folgende Gedicht von Carl Fried stammt aus seinen letzten
Lebensjahren. Er war wahrscheinlich noch nicht von der Krankheit
betroffen, die zu seinem Tode führte. Aber eine düstere Vorah¬
nung treibt ihn, für sich selbst und ihm nahestehende Menschen
Klarheit zu suchen.

Es ist der Tonfall von formauflösender moderner Lyrik, wie wir
sie auch bei Exil-Dichterinnen wie Hilde Domin (1909 — 2006)
und Rose Ausländer (1908 — 1988) finden:

Vom Sterben

Sterben ist nichts,

wenn im Schlaf das Herz
aufhört zu schlagen,

das Tage und Nächte
keinen Schlag fehlte,

bis noch einer getan

und der nächste nicht mehr.

Sterben ist nichts,

wenn der Krug des Lebens
voll war zum Rande,
doch die Kraft

es zu schlürfen,

leise verrann.

Sterben ist nichts, wenn die Kugel traf,
das Rad zermalmte,

des Kletterers Hand

ins Leere griff

denn schneller,

als der Gedanke