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erwähnten Kritiker Jänos Czibor als symptomatisch betrachte werden. Seiner Ansicht nach war die vorrangige Motivation der Autoren und Verleger solcher Bücher, die Gräuel der Vergangenheit zu Geld zu machen. Ihr Erfolg erscheint umso fragwürdiger, als die KonsumentlInnen dieser Literatur in seinen Augen gerade jene waren, „die nicht direkt teilnehmen konnten an der Verfolgung von Unschuldigen und die nun über diese Bücher ihr verborgenen Gewaltphantasien auslebten.“ (Czibor, 1945, 67). Ein anderer Literaturkritiker, Endre Sös, zog den direkten Vergleich zwischen Strömungen in der Literatur von Kriegsgefangenen nach dem Ersten Weltkrieg und der zeitgenössischen „Literatur der Erfahrung“. Er schreibt über diese Erste-Weltkriegsliteratur: „... der Mist, die billigen Kriegsberichte und die blutrünstigen Schundromane eroberten die Schaufenster der Buchläden und ihr Schrecken vertrieb fast alle Meisterwerke. Heute ist die Situation eine ähnliche. Nach dem Zweiten Weltkrieg und den Gräueltaten der Nazis kam eine neue Form des Kriminalromans auf, sie versteckte sich hinter der Maske der ‚Literatur der Erfahrung‘. Profitgierige Verleger und Autoren schufen hier aus den Ereignissen in Auschwitz, Buchenwald und an anderen durch Blut und Asche geheiligten Stätten der Menschheit ihre billigen Groschenromane.“ (Sös, 1946 [1962], 42-43). Oder hier noch die Reaktion einer Journalistin, die für die sozialdemokratische Tageszeitung Nepszava im Jahr 1947 die am Buchmarkt vertretenen Strömungen folgendermaßen beschrieb: „... die Chroniken der Gräueltaten und der Gewalt wurden von den geschockten Lesern verschlungen. Diese Bücher ersetzten Krimis und Thriller. Die Autoren verwechselten Erfahrung mit Kunst und die leidvollen Erfahrungen der Opfer mit den gemeinhin bekannten Schicksalen der Märtyrer. Und die Verlagshäuser produzierten und vervielfältigen die blutrünstigen Geschichten von Todeslagern, Todesmarschen und Todesfabriken dutzenweise.“(Lanyi, 1947). Diese beiden Haltungen zeigen die zentralen Argumentslinien der Literaturkritik auf. Wir sehen, dass Janos Czibor die literarischen Strömungen mit einer in sich widersprüchlichen Rhetorik angreift: Er greift sowohl die Konsumenten als auch die Produzenten unter der Verwendung von antisemitischen Argumentationsmustern an, er spricht von „Geldgier“, von der „Kapitalisierung“ der Vergangenheit. In der Sprache der Literaturkritik wurde ökonomischer Erfolg oft zu einem Signifikanten für Sensationsgier oder von Schundromanen, die „Literatur der Erfahrung“ wurde somit durch ihre Popularität mit dem Erfolg des kapitalistischen Systems gleichgesetzt. Diese Entwicklung wird umso deutlicher, wenn man einen Blick auf die kommunistische Publikations- und Verlagstätigkeit lenkt: Das ungarische kommunistische Verlagshaus Szikra stand unter starkem finanziellen Druck wegen der niedrigen Verkaufszahlen (siehe Scheibner, 2014, 49-68). Die Rhetorik Sös‘ und der Journalistin der Népszava demonstrieren auf eindrückliche Weise, wie sehr versteckte martyrologische Vorstellungen unter linken Intellektuellen die Interpretation der jüngeren Vergangenheit prägten. Sös schreibt von der durch die vielen Todesopfer hervorgebrachten „Heiligkeit“ der Konzentrationslager. Zudem hebt die Autorin Margit Länyi in dem Artikel in der Nepszava den zu dieser Zeit wichtigen Unterschied zwischen Opfern und Märtyrern hervor. Der zweite Satz des Texts zeigt die Einstellung der Autorin: Wahre Kunst wird mit der MärtyrerPerspektive in Verbindung gebracht, so dass Bücher über das Leid der Opfer „nur“ der „Literatur der Erfahrung“ zugerechnet werden können. Dem Märtyrer wird identitätsbildende Funktion zugeschrieben, da dieser nicht auf die Rolle des Opfers und auf das sinnlose Sterben beschränkt ist, sondern die Möglichkeit hat, Widerstand zu leisten und ein moralisch-politisches Bewusstsein auszubilden. Diese Rolle des Märtyrers war von zentraler Bedeutung für die ungarische Öffentlichkeit, vor allem für die linke Seite, denn Ungarn musste einen radikalen Bruch mit der Nazi-Vergangenheit vollziehen und konnte ein neues identitätsstiftendes Narrativ über aktiven Widerstand gegen das alte Regime dringend gebrauchen. Indem man die Rolle der Märtyrer für die Identitätsbildung hervorhob, hatte man die Möglichkeit, progressive, dann jedoch bald unterdrückte Strömungen der Vergangenheit in die Gegenwart zu holen. Wie Valerie Rosoux betont, verkörpert die Figur des Märtyrers eine bestimmte Form der Erinnerung, in der kollektive Gedächtnisinhalte und Identitätsbildung an das konkrete Leben und den heroischen Tod einer Person rückgekoppelt werden. Die Identitätsbildung beruhte in diesen Jahren auf der Formierung eines neuen kollektiven Gedächtnisses, neue Helden und Märtyrer mussten gefunden werden. Ein eindrückliches Beispiel für diesen Prozess sind die ersten Briefmarken der ungarischen Post, die nach dem Ende des Krieges gedruckt wurden: Eine Serie mit dem Titel Märtyrer zeigte ungarische Widerstandskämpfer, die meisten von ihnen waren 1944 oder 1945 hingerichtet worden. Zwei Anthologien wurden in dieser Zeit publiziert, um der Märtyrer unter den ungarischen Intellektuellen zu gedenken, eines befasst sich vor allem mit linksdenkenden Journalisten und trug den Titel A toll märtirjai (dt. Märtyrer mit der Füllfeder, 1945), die andere enthielt Texte von Schriftstellern, Essayisten und Lyrikern dieser Zeit (Magyar märtir {rök antolögiäja, di. Anthologie ungarischer Märtyrer-Schrifisteller, 1947). Beide Anthologien betonen die politische Funktion des Märtyrertums (vor allem das zweite Buch Dezember 2017 41