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Angstreflexe, die Überzeichnung von identitären
Gemeinsamkeiten und deren Vorteilen. Das hört
sich alles zunächst, gerade in unserer vermeint¬
lich aufgeklärten Zeit, nach wenig effektiven,
letztlich sich selbst entlarvenden Methoden an.

Aber zum einen sind rechte Parteien überall in
Europa auf dem Vormarsch, konservative Kräfte
haben in Russland, Ungarn, Polen, dem Nahen
Osten, jetzt sogar in den Vereinigten Staaten
von Amerika das Sagen, und zum anderen muss
man sich nur manche Beiträge und Reden von
neurechten Politikern anhören, um die perfide
Kombination aus scheinbar kritischem Bewusst¬
sein und diskriminierender, vereinfachender
Agitation zu erleben und wie sie ihr süßes Gift
wunderbar unverfänglich und in glänzenden
Oberflächen verpackt unter die Leute bringt,
gut dosiert.

Das Privileg, diese beiden Faktoren zu igno¬
rieren, können sich derzeit eigentlich nur noch
die westeuropäischen und ein paar wenige an¬
dere Länder leisten, und auch hier weht bereits
ein härterer Wind. Der Totalitarismus und die
autoritär-konservative Einstellung stehen wieder
kurz davor, den Ion anzugeben.

Ich zeichne hier ein Schreckensszenario, das
ist mir bewusst. Vielleicht ist die liberale, bür¬
gerliche Gesellschaft stark genug, diesen Ent¬
wicklungen zumindest in Deutschland und
Österreich zu trotzen. Aber nach der Lektüre
von Weiß‘ Buch ist man hochgradig alarmiert.
Nicht allein wegen seinem Hinweis auf die breite
Aufstellung der rechten Szene, ihrer guten Ver¬
netzung innerhalb Europas und ihrer ebenso
guten Kontakte zu den radikalen Bewegungen
in den USA und anderswo. Sondern auch, weil
Weiß das Bild einer Geisteslandschaft zeichnet,
die nicht nur teilweise hochgradig verkopft und
schizophren ist, sondern Auswüchse kennt, die
ich mir vor der Lektüre des Buches in meinen
kühnsten Träumen nicht vorstellen konnte.
Damit meine ich nicht irgendwelche Gewalt¬
phantasien, sondern Gedanken zu Eurasien (eine
gemeinsame Zone von Europa und Asien, be¬
herrscht von Deutschland und den USA), zum
islamischen Fundamentalismus als möglichem
Partner, zumindest nicht Feind (da man viele
Ansichten teilt, u.a. bei der Rolle der Frau, der
Identität, der Tradition, der Autorität) oder die
völlig verwursteten Interpretationen der Wer¬
ke Martin Heideggers. Letztlich laufen diese
Interpretationen darauf hinaus, Heidegger als
Vordenker eines „Seins-Begriffs“ zu inszenieren,
der mit dem Begriff der Identität gleichzusetzen
ist, was bei Heideggers Versessenheit auf die
Seinsvergessenheit der Gegenwart natürlich
wunderbar ins Bild der Neuen Rechten passt.
Heidegger ist ebenso wie Oswald Spengler si¬
cherlich nicht von jeglicher konservativen und
autoritären Deutung freizusprechen, aber in
der Schilderung von Weiß hat diese Deutung
bei der Neuen Rechten bereits Dimensionen
angenommen, die völlig losgelöst sind von jeder
Ontologie und Heidegger zum Verfechter eines
Kulturkampfes machen.

70 ZWISCHENWELT

Weiß hat hier natürlich die Schauerstücke
ausgepackt. Aber in seiner Darstellung drängt
sich doch der Verdacht auf, dass manche davon
nicht allzu weit entfernt sind, zur Disposition,
zumindest zur Diskussion zu stehen.

Das Buch ist unterteilt in neun Kapitel und
behandelt unter anderem auch die Verschrän¬
kungen neurechter Geisteshaltungen mit dem
Erbe, dem Denken und den Taktiken der Alt¬
rechten aus den 1920er und 1960er Jahren. Die
wichtigsten Köpfe der heutigen und damaligen
Bewegung werden abgelichtet, aber Weiß verliert
sich nicht in biographischen Details, sondern
legt den Fokus lieber auf die Überschneidungen,
Auftritte und verbuchten Aussagen der einzelnen
Akteure. (Gendern ist in Bezug auf die neurechte
Szene übrigens nahezu überflüssig. Die einzig
relevante Akteurin in der neurechten Szene, die
Erwähnung findet, ist Ellen Kositza, die Frau
von Götz Kubitschek, und nachdem ich nun
noch einmal ausführlich über das Geschlech¬
terbild der neurechten Kreise informiert wurde,
kann ich nur sagen: Gott sei Dank.) Weiß setzt
sich mit den früheren Versuchen, eine starke,
bis in die Politik reichende rechte Front zu eta¬
blieren, auseinander (u.a. hatte die rechte Szene
gehofft, nach dem Mauerfall könnte sich die
Gelegenheit zu einer „Rechtswende“ ergeben),
widmet außerdem ein etwas langatmig geratenes
Kapitel einer Analyse des Begriffes „Abendland“;
eine Darstellung, die jedoch durchaus nicht
überflüssig ist.

Auch den ganz neuen Hervorbringungen,
von Irump bis zur Identitären Bewegung, sind
einige Stellen gewidmet. Bei den Identitären
schreibt Weiß von der Politik des Spektakel. Man
muss nur ein Interview mit Martin Sellner oder
seinem Bruder Thomas lesen, um zu erkennen,
dass er damit den Nagel auf den Kopf getroffen
hat. Weiß schreibt weiterhin:

Sie haben die Wirkmächtigkeit poppiger Bild¬
inszenierungen erkannt. Das stellt die Bericht¬
erstattung vor das Problem, mit jeder Nachricht
über die Identitären Gefahr zu laufen, auch deren
Botschaft zu transportieren. |...]

Die Identitären vereinen einen Widerspruch in
sich, der typisch für aktivistische und junge Bewe¬
gungen der äußeren Rechten ist: Sie bedienen sich
moderner Agitationsformen, um damit traditio¬
nelle Inhalte zu propagieren. Nicht selten wird
die Botschaft von der Zerstörung der nationalen
Identität durch die amerikanische Massenkultur
in genau den Formen dieser Kultur verabreicht.

Sieht man die rechte Szene an, steht man vor
einer Pampe. Da sind Holocaustleugner neben
Heidegger-Fetischisten, gewaltverherrlichende
amerikanische Rassisten neben Anzugtragern
gegen den Euro, Verteidiger des Abendlandes
neben Bewunderern von Erdodan und Putin,
Kapitalismus- und Liberalismuskritiker neben
Wohlstandskindern mit selbstbedruckten T¬
Shirts, auf denen Reconquista steht, Phantasien
von Hellenen und Germanen stehen neben aal¬
glatten Iheoretikern staatspolitischer Realitäten
und Ideale. Dass diese Pampe trotz ihrer him¬
melweiten Unterschiede so gut zusammenhält

und sich ausbreitet, ohne sich zu zerstreuen,
mag dem gemeinsamen Feind, der derzeitigen
sozialorientierten, toleranten Gesellschaft ge¬
schuldet sein. Doch eine weitere Verbindung
ist die Faszination für die Autorität. Insofern
hat Weiß den Titel seines Buches gut gewählt.

Das Buch gibt einen schr guten Einblick in
die Publikationen und Publikationsorgane der
Neuen Rechten, ersetzt viele Lehrstunden zu
rechter Theorie und ihren Wurzeln und zeich¬
net ein grausiges Bild von der aufkommenden
Gegenwart. Er verlässt sich vor allem auf die
Darstellung und bringt nur hie und da einige
schmale, starke, spitze Kommentare und Klar¬
stellungen an, was schr angenehm und nicht
bevormundend ist, und überlässt die Lesenden
ihren eigenen Wahrnehmungen. Auch ist der
Text in keiner Weise verstiegen und fachsim¬
pelnd.

Am Ende steht ein bedächtiger, aber klarer
Aufruf. Es wird sich nicht alles von selbst regeln
und es gibt Dinge, die diskutiert, die klarge¬
macht werden müssen. Hier verweist Volker
Weiß auf die größtenteils unkritische Debatte
über die Sozialisierung geflüchteter Personen.
Wie der Autor Kamel Daoud (dessen Geschich¬
te es nachzulesen lohnt) setzt er sich für eine
grundlegende Menschlichkeit und auch für die
Unantastbarkeit des Asyls ein, mahnt aber, dass
die Nicht-Thematisierung komplexer Wertekon¬
flikte den rechten Gruppen in die Hände spielt
— die tragen die Themen aus den auf Toleranz
ausgerichteten Räumen in die Mob-Kulturen
auf der Straße und die verqueren Iheoriebücher
ihrer Verlage. Und bestimmen dann damit auch
noch den Ton der Diskussion.

Es darf nicht darum gehen, durch Debatten
Stigmata zu erschaffen, aufzubauen und zu etab¬
lieren. Es ist aber eine irrige Vorstellung, dass nur
Debatten stigmatisieren, denn das Nichtführen
von Debatten führt mit einer ebenso großen
Zwangsläufigkeit dazu, weil sich jede größere
Veränderung in einer Gesellschaft irgendwie
artikulieren muss. Niemand verlangt von der
Diskussionskultur der Demokratie oder ihren
Intellektuellen, dass sie ihre Differenziertheit
aufgeben. Aber sie müssen ihr kritisches Denken
auch auf Aspekte von Themen lenken, die sieim
Kern vorbehaltlos unterstützen und unterstützen
werden. Ansonsten verlieren sie zwar nicht ihre
Integrität aus dem Auge, aber die Möglichkeit,
sie anzuwenden, zu leben.

Die neue Rechte hat viele Trümpfe in ihrem
Blatt Ignoranz und Simplifizierung sind nun
mal ihrem Wesen nach bequeme Alternativen
und es gelingt ihnen damit sehr schnell für ihre
scheinbar klärenden, wegweisenden Konzepte
übergreifende Glaubhaftigkeit zu erlangen, zu
beanspruchen. Und diese Ignoranz ist schwer
zu bekämpfen, denn ihre Antwort ist ein per¬
manentes Nein oder ein permanentes Herun¬
terleiern ihrer eigenen Wirklichkeitsbezüge.
Man kann sie nicht zerschlagen, den Raum,
von dem sie ausgeht, nicht eingrenzen, wohl
nicht einmal verkleinern. Aber im großen Raum