OCR Output

auf unwahre Weise weder dem Anderen zueignen, noch sich selbst
aneignen. — Am besten ist es, auf solchem gemeinsam zurück¬
zulegenden Wege Worte wie „Wert“ oder „Sollen“ erst einmal
vollkommen zu unterdrücken und auch den Anschein einer petitio
principii zu vermeiden. — Pestalozzi hat, wie gesagt, das Problem
der „natürlichen Unterlagen der Moral“ durchaus geschen und
uns in zahllosen theoretischen, dialogischen und romanhaften
Werken vorgearbeitet. Neben den Platonischen Dialogen gibt es
wohl kaum Werke, denen heute solche „philosophische Aktualität“
zukäme. Jedes philosophische Universitätsseminar sollte eines
seiner Bücher zur Diskussionsgrundlage machen.

Anstelle einer zehnten These:
Beispiel eines Gesprächs mit einem jungen Nihilisten

(Man stelle sich einen intelligenten Jugendlichen vor, der mit der
Kapitalfrage „Warum soll man sollen?“ — oder kürzer: „Warum
schon?“ oder noch kürzer: durch Schulterzucken — die Erzie¬
hungsarbeit und sein eigenes Leben sabotiert.)

Lehrer: Lebst du gerne?

Junge: Ja.

L.: Trotz allem?

J.: Ja.

L.: Sieht die Welt, in der du am liebsten gerne lebtest, so aus
wie diese?

J.: (höhnischer Blick)

L.: Richtig. Was gehört zum Gerne-Leben?

J.: Essen. Gut essen. Gute Dinge.

L.: Richtig. Also Welt. Nur Dinge der Welt?

J.: (gibt dem Lehrer einen komplizenhaften Blick)

L.: Richtig. Auch Menschen. Menschen, die du gerne hast?

J.: Ja.

L.: Gut. Gerneleben und Alleinleben geht also nicht zusammen.

J.: Nein.

L.: Und wie wünschst du dir die Welt?

J.: Hab ich schon gesagt.

L.: Das meine ich nicht. Sondern im Ganzen. Würdest du gern
in einer Welt leben, in der dir jeden Augenblick ein Ziegelstein
auf den Kopf fallen würde?

J.: (findet die Frage läppisch)

L.: Richtig. Also eine Welt, die dir nicht jeden Augenblick unüber¬
sehbar in die Quere käme. Eine, mit der du rechnen könntest.

J.: Ja.

L.: Eine, der du vertrauen kannst.

J.: Ja, das ist die Welt, die man eigentlich verlangen kann.

L.: Das verstehe ich nicht.

J.: Ich meine, aufeine solche Welt hätte man eigentlich Anrecht.

L.: Was hätte man?

J.: Anrecht. Was ist los mit „Anrecht“?

L.: Sieh mal an. Was für ein komisches Wort.

J.: Warum komisch?

L.: Hätt ich aus deinem Mund zu allerletzt erwartet.

J.: Warum?

L.: Später. — Und wer ist diese verlässliche Welt, die es dir möglich
machte, wirklich gern zu leben?

J.: Was heißt „wer“?

L.: Nur die Ziegelsteine? Sind die verlässlich? Legen die sich al¬
leine aufs Dach?

J.: Schön. Die Leute.

L.: Richtig. Zu der Welt, in der du wirklich gerne lebtest, gehört,
dass du dich auf die Leute verlassen kannst.

J.: Meinetwegen.

L.: Oh nein, nicht nur deinetwegen. — Und darauf, auf die Ver¬
lässlichkeit der anderen hat man ein Anrecht?

J.: Ja.

L.: Also, was ein „Anrecht“ ist, wissen wir zwar in dieser Unterhal¬
tung noch nicht. Aber tun wir einmal, als wüssten wir’s. Findest
du, du bist der Einzige, der dieses sonderbare Eigentum hat?

J.: Welches Eigentum?

L.: Du sagtest doch, du hast ein Anrecht.

J.: Ja. Aber nicht wie Geld.

L.: Sondern?

J.: Weiß nicht.

L.: Wie kommst du denn zu deinem Anrecht?

J.: (vertrotzt) Ich nehm mir’s halt.

L.: Was? Ich denke, du hast es schon. Z. B. ein Anrecht auf eine
verlässliche Welt.

J.: (stutzt)

L.: Du meinst du nimmst dir, woraufdu Anrecht hast?

J.: Jacke wie Hose.

L.: Du nimmst dir’s also. Damit du gut und gerne leben kannst?

J.: Sind Sie noch nicht fertig?

L.: Nein, ich fang erst an. Wenn du dir’s nämlich nimmst, wirst
du deinem Gut-und-gerne-Leben adieu sagen miissen.

J.: Abwarten. Dann Tee trinken.

L.: Das ist eben die Frage.

J.: Was?

L.: Ob du zum Teetrinken kommst. Wenn du dir nämlich, worauf
du Anrecht hast, einfach nimmst, werden dir die Anderen das
natürlich streitig machen. Weil sie nämlich auch gut und gerne
leben möchten. Und weil auch sie das nur können, wenn sich
die Anderen einigermaßen voraussehbar benehmen.

J.: Hm.

L.: Und für die Anderen bist du ein Anderer.

Pause

L.: Hast du deine Mutter gern?

J.: Das geht Sie nichts an.

L.: Du scheinst sie also schr gern zu haben. Ich meine auch. —
Findest du, auch sie hat ein Anrecht darauf, gut und gerne zu
leben? Und anständig behandelt zu werden?

J.: Klar.

L.: Und worin gründet ihr Recht?

J.: Darin, anständig behandelt zu werden.

L.: Hör zu: ich frage nicht, worauf'sie ein Recht hat, sondern
woraufhin. Woraus schöpft sie ihr Recht?

J.: Schöpft?

L.: Ja, schöpft. — Stell dir vor, du bist im Jahre 1944. Du bist ein
SS-Mann. Und langst Einem im Lager eine runter. Und der
hat die Zivilcourage und sagt: „Dazu haben Sie kein Recht.“
Was würdest du antworten?

J.: Gar nichts. Ich hatte eben das Recht, weil ich SS-Mann ware.

L.: Also aus dieser Tatsache schöpftest du dein Recht. Daraus,
dass eine Macht dir die Rechte verliehen hätte.

J.: Klar.

L.: Und Aristokraten früher haben ihre Rechte z. B. Aus ihrer
„hohen Geburt“ geschöpft. Andere, die Nazis an der Spitze,
aus der bloßen Gewalt.

J.: Richtig. Macht ist Recht.

Juni 2018 45