zum eigenen Leben zu suchen und sich zwei Fragen zu stellen.
Eine schwer zu beantwortende und eine leicht zu beantwortende.
Die schwere Frage lautet: Wie hätte ich damals gehandelt? Die
leichte: Und wie handle ich heute? Einen Gedenkanlass also zu
nutzen zur persönlichen Gewissenserforschung, um dann einem
möglicherweise daraus erwachsenden eigenen Appell zur Wand¬
lung zu folgen.
Wenn der 1938 ins amerikanische Exil entkommene österrei¬
chische Literat Alfred Polgar in seinem 1948 noch im Emigran¬
tenverlag Querido erschienenen Essay „Der Emigrant und die
Heimat“ schreibt: „Nicht verschwiegen darfauch werden, dass es viele
im Nazi-Reich gab, die zu den schmutzigen und blutigen Ereignissen
dort zwar nicht laut ‚Nein‘ sagten, aber immerhin die keineswegs
ungefährliche Charakterstärke aufbrachten, nicht laut ‚Ja‘ zu sagen.
.. dann frage ich mich: Hatte denn ich die Charakterstärke
aufgebracht, nicht laut Ja zu sagen, oder gar laut Nein? Schwer
zu beantworten. Deshalb viel wesentlicher: Wofür reicht meine
Charakterstärke heute, ohne jede Gefährdung?
Als ich diese zwei Fragen in einer Gedenkrede am österreichischen
Nationalfeiertag, dem 26. Oktober 2016 beim Mahnmal der Opfer
für ein freies Österreich am Friedhof Annabichl in Klagenfurt im
Beisein des Kärntner Landeshauptmannes und vieler sogenannter
Honoratioren gestellt habe, kamen nachher viele auf mich zu und
gratulierten zur Aufforderung, sich einmal die schwierige Frage
zu stellen: Wie hätte ich damals gehandelt?
Ich war erstaunt, dass niemand meine zweite Frage erwähnte.
Wie ist das also mit der Charakterstärke damals und heute? Ich
hätte damals wohl geschwiegen, wenn man mich bedroht hätte,
meine Familie, meine Kinder, wenn ich um meinen Beruf, mein
Auskommen, mein Leben hätte bangen müssen? Aber wie laut
ist meine Stimme heute, ohne diese Bedrohungen?
Ich frage weiter: Was wäre ich damals gewesen, als durchschnitt¬
licher Bürger: ein Gleichgültiger oder ein Wacher? Ein Abschalter
oder ein Mitdenker? Ein Wegschauer oder ein Hinschauer? Ein
Schweiger oder ein Aussprecher oder gar ein Rufer? — Schwer zu
beantworten. Deshalb viel wesentlicher: Wie laut ist mein Ruf
heute?
Hätte ich gewähren lassen damals oder hätte ich eingegriffen?
Hätte ich wissen wollen damals oder besser nicht wissen wollen?
Wäre ich ein Dummsteller gewesen oder ein Verstehenwollen¬
der? — Schwer zu beantworten. Deshalb viel wesentlicher: Was
davon bin ich heute?
Hätte ich mich verführen lassen damals, hätte ich geglaubt,
gehofft? Oder hätte ich der Verführung widerstanden? Hätte ich
gar Widerstand geleistet? — Schwer zu beantworten. Deshalb viel
wesentlicher: Was von dem tue ich heute?
Hätte ich damals versucht, mir über mein Gewissen klar zu
werden und auch danach zu handeln? — Schwer zu beantworten.
Deshalb viel wesentlicher: Bin ich mir heute über mein Gewissen
im Klaren? Handle ich heute danach? Wie sicher bin ich mir
meiner ethischen Selbstverantwortung? Kann ich wirklich die
Hand für mich ins Feuer legen?
Solche Gewissenserforschung kann wehtun, und vielleicht taucht
manche dunkle Seite auf, der sich zu stellen nicht angenehm ist.
Aber genau das halte ich für die Möglichkeit, Gedenkanlässe für
jeden Einzelnen wirken zu lassen.
mich immer von
neuem ein Gedicht
von Alfred Farau.
Als Fred Hernfeld
wurde er in Wien
beim November¬
pogrom 1938 ver¬
haftet und nach
Buchenwald de¬
portiert. Er konnte
oder Wie mein Vater
Jüdische Witze erzählte
freikommen und in |
die USA fliichten.
Dort war er bis zu
seinem Tod ein
führender Vertre¬
ter der Individu¬
alpsychologie und
hat neben Fachbü¬
chern auch etliche
Dichtungen hin¬
terlassen; darunter
ein Gedicht, das er 1943 (!) geschrieben hat, also zwei Jahre v o
r dem Ende des Nazi-Ierrors. Er nannte es, als Wunsch in die
Zukunft gerichtet, „Rede am Tage von Hitlers Sturz“. Ich zitiere
daraus nur ein paar Zeilen:
Hitler ist tot! — Nun schwenket keine Fahnen,
marschiert nicht auf und läutet nicht die Glocken,
das ist ein Tag der Trauer und der Scham,
das ist kein Tag, um jauchzend zu frohlocken!
Wenn solch ein Mann in blutig langen Jahren
des Wahnsinns, wie die Welt ihn niemals sah,
von euch ertragen ward, von euch geduldet —
wenn das geschehen konnte und geschah,
dann schweigt, ihr Leute, und denkt nach darüber,
und fragt euch, wie es möglich war und kam
und dauern konnte |...]
Von tausend Kanzeln gilt es, aufzuzeigen,
wie sich die Menschheit selbst ihr Los erschafft,
bis jedem klar wird, dass er mitverbunden,
mit Teil hat an der Erde Schöpferkraft!
[J]
Wenn das geschieht, und erst wenn wir so weit sind,
[J]
dann ist es Zeit zu jauchzen und frohlocken,
dann ist es Zeit für Fahnen und für Glocken —
doch heut ist nur ein bittrer Tag der Scham.
Besinnt euch, Leute, und geht still nach Hause.
Hitler ist tot — der wahre Kampf beginnt.
Dieser wahre Kampf beginnt zuerst in jedem Einzelnen von uns.
Beim Hineinfragen in sich selbst.
Ich glaube, dass diese Gewissenserforschung in der so klein ge¬
wordenen globalisierten Welt über alle Grenzen hinweg in Köpfen
und Herzen international verbindend und stärkend wirken kann.
Zumindest aber kann diese Form der Erinnerungskultur zu einem