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jener Werte werden, auf die wir uns im Sinne des europäischen Einheitsgedankens berufen. Der deutsche Jude Siegmund Feniger, der bereits 1936 von Berlin über Wien nach Sri Lanka geflohen war und dort als Nyanaponika zu einem der großen buddhistischen Gelehrten wurde, gab uns als Essenz seiner Erkenntnisse einen Satz, der ans Ende gestellt sich als Bestätigung meiner Gedanken verstehen lässt. Der Satz lautet: Nur durch innere Wandlung wandelt sich das Aufen, auch wenn es noch so langsam nachfolet. Wolfgang Häusler Miguel Herz-Kestranek, geb. 1948 als Sohn jüdischer Remigranten in St. Gallen (Schweiz). Schauspieler und Buchautor mit derzeit 13 Buchveröffentlichungen. Theater-, Musical-, TV- und Filmrollen, Soloprogramme als Rezitator und Kabarettist, außerdem Kommentator, Keynote Speaker, Diskussionsleiter. 1988 Gestalter einer ORFFilmdokumentation über österreichisch-jüdische Emigranten in Israel. 2008 bis 2018 Vizepräsident der Österreichischen Gesellschaft für Exilforschung, Kuratoriumsmitglied des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes, Beiratsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik, 2000 bis 2010 Vizepräsident des Österreichischen PEN-Clubs. Lebt und arbeitet in Wien und St. Gilgen. www.herz-kestranek.com Die Geschichte der Wiener Arbeiterschaft und -bewegung in der Revolution von 1848, in Praxis und Iheorie der Demokratie, ist nicht nur eine lokalgeschichtliche Frage, ein signifikanter Sonderfall, sondern auch integrierender Teil jener Globalisierung, die der Schlussappell des Manifests der Kommunistischen Partei bezeichnet: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ Im Vielvölkerreich der Donaumonarchie war die überfällige bürgerlich-demokratische Revolution durch divergierende, konkurrierende und einander bekämpfende Nationalismen gefährdet -— Konflikte, die den Sieg der militärischen Gegenrevolution und den Rückfall in das repressive System des Neoabsolutismus ermöglichten. Im exzessiv gefeierten „Kaiserjahr“ 2016 des hundertjährigen Todestags (!) Franz Josephs war über diese Probleme Schweigen gebreitet. Die für den Ausbruch der Revolution maßgebende ökonomische und soziale Krise hatte Arbeitslose in großer Zahl freigesetzt, aus dem Wiener Gewerbe ebenso wie aus dem massenhaften Zuzug von Saisonarbeitern und -arbeiterinnen. Die liberalen „Errungenschaften“ der März- und Mairevolution auf der Grundlage von „Besitz und Bildung“ gingen an diesem frühen Proletariat Wiens und an den Arbeitsmigranten vorbei. „Gott zum Gruß, ihr wackern Leute./ Traun, ich kenne eure Not./ Immer schon des Kummers Beute,/ gibt die Freiheit euch kein Brot.“ — klagte der Volksdichter Ferdinand Sauter. Eine markante Kennzahl: Die Bevölkerung Wiens, damals größte Stadt im deutschen Sprachgebiet, hatte sich in den zwei Jahrzehnten vor 1848 aufüber 400 000 verdoppelt, die Zahl der Häuser im selben Zeitraum nur um 11,4 % vermehrt. In Wien entstand nach Sturmpetition und Barrikadentagen des Mai ein Machtvakuum: Kaiser und Hof verließen die Residenzstadt. Von Innsbruck aus wurden die militärischen Befehlshaber — Windischgratz, Radetzky, Jelasi¢ — gegenrevolutionar instruiert und koordiniert. Die improvisierte Stadtbehörde des Sicherheitsausschusses organisierte, mangels Bürgermeister und Gemeinderat, mit dem Arbeitsministerium - in Analogie zu den Pariser Nationalwerkstätten — öffentliche Arbeiten, die hauptsächlich in konzeptlosen Erdarbeiten zum Hochwasserschutz bestanden. Im Juni 1848, als es in Paris zum blutigen Eklat kam, zählte man in Wien über 20.000 Beschäftigte, davon viele Frauen 50 ZWISCHENWELT und Jugendliche. Das „Recht auf Arbeit“ war proklamiert, seine Realisierung scheiterte. Eine einschneidende, existenzbedrohende Taglohnkürzung seitens des Ministeriums führte zur Konfrontation: Bürgerliche Nationalgarde und Sicherheitswache schlugen den Sozialprotest am 23. August in der „Praterschlacht“ brutal nieder. Marx, der wenige Tage später für eine Woche nach Wien kam, sprach im Demokratischen Verein vom „Kampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat“ — in Wien wie in Paris. Die betroffenen Arbeiter und Arbeiterinnen wurden dann großteils zum im Sommer beschlossenen Bau der Semmeringbahn geschafft, die — als bewunderte technische Großtat — 1854 vollendet und in den Folgejahren zügig bis Triest weitergeführt wurde. Ferdinand von Saars Novelle „Die Steinklopfer“ (1874) gibt ein realistisches Bild von den Arbeitsbedingungen — das Massengrab der an Epidemien Verstorbenen bei Klamm wird noch heute als ,,Pestfriedhof* bezeichnet. „Die Opfer der Zivilisation fielen hier wie sonst auf den Schlachtfeldern“, schrieb ein Führer für die Semmeringbahn. In dieser Krise, als die Abschiebungen von Arbeitern aus den böhmischen Ländern einsetzten, erhob sich aus den Reihen der Wiener Erdarbeiter eine Stimme, als Petition an den Reichstag (das zugestandene Wahlrecht für selbständige und ortsansässige Arbeiter war durch bürokratische Kniffe des indirekten Verfahrens unterlaufen worden) - ein Signal der Solidarität, das in unseren Zeiten der Migrations- und Integrationsproblematik Gehör verdient: Auch halten wir es für ein Unrecht, daß alle Österreicher, Mährer und Böhmen, welche zu Österreichs Staaten gehören, gewaltsam von den öffentlichen Arbeitsplätzen entfernt worden sind. [...] Ja, auch sie sind unsere Brüder — und wir wollen keinen Haff gegen einander hegen — weil wir alle gleiche Staatsbürger sind. [...] Folglich soll jeder seine Menschenrechte und Pflichten geniefsen, sei er Bürger oder Bauer oder Arbeiter, denn lange genug schmachteten wir im Sklavenjoch. Politisches Bewusstsein zeigte sich in der Zerstörung von Werbehütten für die Italienarmee Radetzkys im Juni 1848; dennoch wurden die Wiener Freiwilligen, die dem Feldherrn als Kanonenfutter dienten, zum Anlass für die Komposition des Radetzkymarsches von Johann Strauß Vater. Das Spektrum der Arbeiterschaft Wiens und des Wiener Raums, mit fließenden Übergängen zwischen Kleinbürgertum und unterbürgerlichen, plebejischen Volksschichten, differenzierte sich