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rapide in der technisch-industriellen Revolution des Vormärz,
wie es sich namentlich im dominierenden Textilsektor zeigte: Die
Baumwollfabrikation im Wiener Becken war seit Anfang des 19.
Jahrhunderts von Verlagswesen und Manufaktur (Schwechat) in
wenigen Jahren zur Maschinenspinnerei (unter englischem Einfluss
zuerst: Pottendorf 1801) übergegangen; die Endfertigung der
Stoffdruckerei durch die Perrotinen setzte unmittelbar vor 1848
jene Arbeitskräfte frei, deren Protest sich im Maschinensturm der
Märztage entlud. Auch die spezifische Wiener Luxusindustrie, die
Seidenweberei („Brillantengrund“ der westlichen Vorstädte), wurde
mechanisiert und stockte überhaupt in der revolutionären Krise.
Hier lag die Ursache des Sturms der Vorstadtbevölkerung auf die
Linienämter, wo die verhasste, die Lebenshaltung verteuernde
Verzehrungssteuer eingehoben wurde (heute Gürtel).

Von diesem spontanen gewaltsamen Protest in Vorstädten und
Vororten spannte sich ein Bogen zu beschleunigter Organisation,
vor allem im Allgemeinen Wiener Arbeiterverein — auch hier sprach
Marx, über Lohnarbeit und Kapital (beachtenswert als erster
Entwurf einer „Kritik der politischen Ökonomie“!) und die west¬
europäische Arbeiterbewegung. Der rührige Gründer des Vereins
Friedrich Sander nannte sich zunächst „Gesell“, dann „Arbeiter“. In
seiner regen Publizistik gab er eine klare Definition des Proletariats
als Lohnabhängigkeit und hatte Kontakt zur Arbeiterverbrüderung
Stephan Borns. Das Selbstbewusstsein und das Bildungsstreben
der erwachenden Arbeiterschaft manifestierten sich im Lokal ihrer
Zusammenkünfte: die renommierten Sträußelsäle des Theaters
in der Josephstadt. Die vielbeschäftigten Buchdrucker schlossen
sich unter der Leitung des fortschrittlichen Liberalen Dr. Karl
Scherzer, der dann an der Weltumsegelung der Fregatte „Novara“
teilnahm, erfolgreich gewerkschaftlich zusammen.

Das hochqualifizierte Handwerker(klein)biirgertum stand
im Zwiespalt zwischen Zunftwesen und freier Wirtschaft; ge¬
werkschaftliche Forderungen wurden dadurch behindert. Die
Arbeiterschaft dieser Produktionszweige blieb noch lange ei¬
nem spezialisierten Kunstgewerbe verhaftet: Jakob Reumann,
Wiens erster sozialdemokratischer Biirgermeister in der Ersten
Republik, war Drechsler in der Meerschaumpfeifenfabrikation
und griindete deren Gewerkschaft. Die Facharbeiter in den von
englischen und nordamerikanischen Ingenieurunternehmern
(Haswell, Norris) geleiteten Maschinenbetrieben, vor allem in
den Eisenbahnwerkstatten bei den Kopfbahnhéfen, setzten 1848
den Zehnstundentag durch, nach dem Sieg der Gegenrevolution
sogleich zuriickgenommen.

Die anfanglich deutliche Differenzierung der heterogenen Wie¬
ner Arbeiterschaft wich nach der Augustkrise einem gemeinsamen
Klassenbewusstsein, das in Solidaritatsaktionen zum Ausdruck
kam. Im Oktober standen Handwerker, Arbeiter und Studenten
im letzten Abwehrkampf der Demokratie gegen die militarische
Gegenrevolution.

Der Zusammenhang zwischen biirgerlicher und sozialer Demo¬
kratie und den Anfängen der Arbeiterbewegung war die treibende
Kraft der europäischen Revolutionen von 1848. Am 6. Dezember
1848, just da die Nachricht von der Olmiitzer Thronbesteigung
Franz Josephs Wien erreichte, léste das Innenministerium ,,die
sogenannten demokratischen Clubs und Arbeiterclubs, deren eben¬
so verbrecherisches als verderbliches Treiben iiberall Unruhe und
Aufregung und das beklagenswerteste Unheil gestiftet hat“, auf.

In meinem jüngsten Versuch, Demokratie und Revolution in der
österreichischen Geschichte zusammenzuführen (2017), habe

ich die wichtigsten, untereinander im Demokratischen Verein
vernetzten „Doktoren der Revolution“ (Heinrich Heine) zu Wort
kommen lassen: Der 25jährige Philosoph Dr. Hermann Jellinek,
der für seine Zeitungsartikel im „Radikalen“ mit dem Aufrufzum
Widerstand gegen die kaiserlichen Truppen, am 23. November
1848, nicht zuletzt wegen seiner jüdischen Herkunft, hingerichtet
wurde; der Publizist Dr. Andreas Freiherr von Stifft d.J., dem Marx
1849 schrieb, er hoffe, in einer künftigen Revolution mit ihm „in
einem deutschen Convent“ zu sitzen; und vor allem Dr. Ernst
von Violand, am 20. Februar 1818 im niederösterreichischen
Wolkersdorf an der Brünner Straße geboren. Sein Urgroßvater
war ein 1766 nobilitierter Handelsmann aus Savoyen, Großvater
und Vater waren hohe Beamte im Straßenbauressort. Wie Stifft
Jurist, war Violand in allen Körperschaften der Revolution tätig:
Akademische Legion, Nationalgarde, Sicherheitsausschuss, Abge¬
ordneter von Korneuburg zum Reichstag, wo er als treibende Kraft
im Verfassungsausschuss die Volkssouveränität proklamierte — „Alle
Staatsgewalten gehen vom Volke aus“ — und in den Grundrechten
die „Gleichberechtigung der Nationalitäten“ verankern wollte.
Im Reichstag kämpfte Violand gegen Adelsvorrechte und -titel;
das „von“ in seinem Namen hatte er abgelegt. Mit seinem Freund
Hans Kudlich trat Violand für die entschädigungslose Aufhebung
der Feudallasten in der „Bauernbefreiung“ ein. Die Reichstagslinke
verweigerte das Dankesvotum an die Armee Radetzkys.

Bekanntlich hat Lenin „drei Quellen und drei Bestandteile des
Marxismus“ (1913), als der „allmächtigen und wahren Lehre“,
definiert: „das rechtmäßige Erbe des Besten, was die Mensch¬
heit im 19. Jahrhundert in Gestalt der deutschen Philosophie,
der englischen Ökonomie und des französischen Sozialismus
hervorgebracht hat.“ In dieser Wechselwirkung zwischen Arbei¬
terklasse und revolutionärer Intelligenz, durch die das Proletariat
als Arbeiterbewegung von einer Klasse an sich zur Klasse für sich
wurde, vergaß Lenin einen wichtigen Faktor: die konkrete Be¬
schreibung und Analyse, wie sie Friedrich Engels für „Die Lage der
arbeitenden Klasse in England“ (1845) leistete, mit Aufdeckung,
Erkenntnis und Vermittlung der fundamentalen Widersprüche
der kapitalistischen Ökonomie, zugleich ein frühes Beispiel für
frühe empirische Sozialforschung. Zu dieser Bewusstseinsbildung
— von der Pauperismusfrage zum objektiven und subjektiven
Verständnis der Stellung der Arbeiterklasse — trug auch die soziale
Vormärzdichtung wesentlich bei, die, vom jungen Engels begrüßt,
mit Karl Beck aus Ungarn und Alfred Meißner aus Böhmen ihre
ersten Vertreter in der deutschen Literatur hatte.

In diesem Bildungsprozess von Demokratie, Arbeiterbewe¬
gung und Sozialismus stand Violand in erster Reihe. Nach der
Sprengung des Kremsierer Reichstags aus der Heimat vertrieben
und in Abwesenheit in einem vom Kriegsgericht zum Wiener
Kriminalgericht bis 1856 verschleppten Prozess, mit anderen
Abgeordneten der Reichstagslinken, als „Hochverräter“ zum Tod
durch den Strang verurteilt, machte er noch in Hamburg und Kiel
Station, ehe er in die USA emigrierte. Vom Jänner 1850 datiert
das Vorwort zu seiner „Sozialen Geschichte der Revolution in
Österreich“, erschienen bei Otto Wigand in Leipzig, von Arnold
Ruge, Bruno Bauer, Ludwig Feuerbach bis Moses Heß und Engels
der Hauptverleger der junghegelianischen, radikaldemokratischen
und frühsozialistischen Literatur. Grundlegend ist die Erkenntnis
des „Kampfes der Gesellschaft mit der Idee des Staates“, deren
Spaltung in „die herrschende Klasse und die abhängige Klasse“.
Der letzte Satz des Buches fragt, wie „die Macht, die Herrschaft des

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