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langfristige, nicht voluntaristische Revolutionsperspektive — mit
der auf sofortige revolutionäre Aktion drängenden Fraktion Wil¬
lich und Schapper abrupt gebrochen, die einen „Sonderbund“
gründeten. Der „Bund der Kommunisten“ wurde nach Köln
verlagert, wo er als „Verschwörung“ seiner Mitglieder abgeurteilt
wurde. Der chemals preußische Offizier August Willich (1810
— 1878) wurde hervorragender General im Sezessionskrieg auf
republikanischer Seite; der frühere Gießener Burschenschafter und
Teilnehmer am Frankfurter Wachesturm Karl Schapper (1812 —
1870) vollzog noch den Anschluss an die in der Internationale
erneuerte Arbeiterbewegung. Marx resümierte die Erfahrungen
der Revolution in der konsequenten Kette von „Klassenkampf,
Diktatur des Proletariats, Aufhebung aller Klassen zu einer klas¬
senlosen Gesellschaft“ in dem berühmten Brief an den Freund
Joseph Weydemeyer (1818 — 1866) in New York (5. Marz 1852).

Das Problem von Demokratie und Diktatur als Mittel der Re¬
volution setzte sich fort: Marx und Bakunin bezichtigten einander
in der krisenreichen und kurzen Geschichte der I. Internationale
des Strebens nach der Diktatur. In der Kritik des reformberei¬
ten Gothaer Programms (1875) hatte Marx die ,,Diktatur des
Proletariats“ in Erinnerung gerufen. Diesen polemischen Text,
der vor der ausschließlich parlamentarischen Perspektive warnte,
publizierte Engels erst 1891. Er projizierte ferner die „Diktatur des
Proletariats“ rückschauend auf die Pariser Commune von 1871.
Hier knüpfte Lenin an, mit der in Zürich Ende 1916 verfassten,
philologisch peniblen Zusammenstellung der Marx-Engels-Zitate
zum Zentralthema „Marxismus und Staat“ — das „blaue Heft“,
das er am Vorabend der Oktoberrevolution zur grundlegenden
Strategie, in der für die Machtübernahme maßgebenden Schrift
„Staat und Revolution“, formte.

In der Krise der Ersten Republik 1926 definierte das Linzer
Parteiprogramm der österreichischen Sozialdemokratie „zwischen
Reformismus und Bolschewismus“ (Norbert Leser) die „Diktatur
des Proletariats“ — defensiv für den Fall einer „Gegenrevolution
der Bourgeoisie“ und einer „Sprengung der Demokratie“: „Wenn
sich aber die Bourgeoisie gegen die gesellschaftliche Umwälzung,
die die Aufgabe der Staatsmacht der Arbeiterklasse sein wird, [...]
widersetzen sollte, dann wäre die Arbeiterklasse gezwungen, den
Widerstand der Bourgeoisie mit den Mitteln der Diktatur zu
brechen.“ Eine problematisch verbalradikale, von den Gegnern
aufgegriffene Formulierung, die Max Adler gegen die Bedenken
von Julius Deutsch und Otto Bauer durchsetzte - und gleichzeitig
die „soziale Demokratie“ als Ziel nannte! Mit dem Programm¬
punkt der „klassenlosen Gesellschaft“ lebte dieses Dilemma des
Austromarxismus fort.

Das gegenwärtig geltende Grundsatzprogramm der SPÖ (1998)
ersetzte diese Iraditionsformel durch das „Ideal einer humanen,
demokratischen und gerechten Gesellschaft, in der Klassengegen¬
sätze überwunden sind, in der Probleme friedlich gelöst worden
sind und in der sich die menschliche Persönlichkeit frei von Angst
und Not entfalten und ihre Fähigkeiten entwickeln kann.“ Als
„Partei der Reform“ reflektiert die gegenwärtige Sozialdemokratie
nicht mehr ihren revolutionären Ursprung und ihre Vision: „Plan
A“, den Bundeskanzler Christian Kern für die Nationalratswahl
2017 in Auftrag gab, bezeichnete sich als „Programm für Wohl¬
stand, Sicherheit & gute Laune“, mit völliger Verwischung der
Klassenanalyse: „ArbeiterInnen, Angestellte und Unternehmer¬
Innen, die jenen Wohlstand für sich und unser Land erarbeiten,
von dem letztlich alle profitieren“ — das letzte Wort der von ihren
Urspriingen abgekoppelten österreichischen Sozialdemokratie?

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Violands Analyse am Ursprung der Dialektik von Demokratie
und Diktatur stand im Zeichen der unter dem Eindruck der
Niederlage in Emigrantenkreisen weit verbreiteten Hoffnung,
dass die Revolutionäre — gewissermaßen stellvertretend für die
geschlagene und geschwächte Arbeiterklasse und ihre Bewusst¬
seinsbildung und Organisation antizipierend — die Macht ergrei¬
fen könnten. Diese Abkürzung des historischen revolutionären
Prozesses scheiterte angesichts des stabilen Bündnisses zwischen
der alten, sich auf Armee, Kirche und Beamtentum stützenden,
ihre Herrschaftspraxis modernisierenden Staatsgewalt und dem
seiner Wirtschaftsmacht bewusst gewordenen Biirgertum, das
sich im Wien der Ringstraßenära stolz manifestierte.

Die „Emanzipation der Arbeiterklasse“, die 1848 am Horizont
der bürgerlich-demokratischen Revolution aufgetaucht war, musste
„durch die Arbeiterklasse selbst erobert werden“ („Statuten der
Internationalen Arbeiter-Assoziation“, 1864), auf einem mü¬
hevollen, von furchtbaren Rückschlägen unterbrochenen Weg.
Violand ist einer der ersten gewesen, die in Österreich diesen Weg
vorgezeichnet haben und mitgegangen sind. In der noch politisch
unerfahrenen Arbeiterschaft erkannte er die revolutionäre Kraft
der Zukunft und den wichtigsten Träger einer gerechten und
demokratischen Gesellschaftsordnung:

Hätten alle anderen Menschen das Herz, den Mut, die Begeisterung
für Recht und Gerechtigkeit, hätten sie die Uneigennützigkeit wie
die Proletarier Wiens, ich bin überzeugt, die Erde wäre ein Paradies.

Die „soziale Geschichte“ dieses ersten österreichischen ‚Sozial¬
demokraten‘ war das erste und für lange Zeit einzige Werk über
die tiefe Krise, von der die Donaumonarchie beim Übergang vom
Feudalismus zum Kapitalismus, gleichzeitig mit dem Erwachen der
Nationen, erschüttert wurde. Seine Prognose des Zerbrechens des
Habsburgerreiches an den ungelösten Fragen der unterdrückten
Revolution von 1848 sollte in Erfüllung gehen: „Die Republik
bleibt nach der nächsten Revolution die in Österreich einzig
und allein mögliche Regierungsform. [...] Mit der Vernichtung
des Ihrones wird aber zugleich der eiserne Reif, welcher um die
österreichischen Länder geschmiedet ist, zersprungen sein, und sie
werden auseinander und dorthin fallen, wohin sie das Interesse, die
Sympathie, die Nationalität, die Freiheit ruft.“ An den Arbeiten
des Kremsierer Reichstags zur „Gleichberechtigung der Natio¬
nalitäten“ als spezifisches Grundrechts- und Verfassungsprinzip
hatte Violand wesentlichen Anteil — die Unterdrückung dieses
demokratischen Lösungsversuches und die historische Verspätung
des Parlamentarismus verschuldeten die Konflikte der Spätzeit
der Donaumonarchie und in ihren Nachfolgestaaten.

Sein Porträt, das ihn auf dem Höhepunkt seines politischen
Wirkens als Reichstagsabgeordneter in der Uniform der Na¬
tionalgarde zeigt, signierte Violand mit dem trotz alledem die
Zuversicht auf den historischen Fortschritt bezeugenden Satz:
„Die Demokraten der Gegenwart können fallen, aber die Sonne
der wahren Völkerfreiheit wird auf ihre Leichenhügel strahlen.“

Postskriptum: 2005 fand in Violands Heimatort Wolkersdorf
eine Tagung der Weinviertel-Akademie mit kleiner Ausstellung
statt. Sie wurde vom Bürgermeister (ÖVP) boykottiert — erst
2007 konnte gegen erheblichen Widerstand die Benennung einer
kleinen Gasse mit Violands Namen durchgesetzt werden — sie
sollte nicht die einzige Erinnerung an diesen Vorkämpfer der
sozialen Demokratie bleiben.