OCR
sie vernehme man, als Offenes, als Frage: noch in den Parolen, die Diskontinuitäten und Interventionen ermöglichen. Ganz so weit weg von Sachs‘ exilierter Lyrik ist das nicht. Das Wort könne noch das, was Staub ist, als Spur bewahren, nicht in Aphasie verfallen, mit Derrida, der hier bewußt Heideggers Seinsphantasmen historisiert und scheinbar hysterisierend des Phantasmas entkleidet: „Asche als Haus des Seins“°®. — „Formen zu Asche“ ”®, so Nelly Sachs. Heimat gibt es nicht, nicht die’, nicht eine, das Unheimliche bleibt, es geht um das Verzeichnen von Spuren, die dann sich verdoppelnd „sprachliche Spuren hinterließen.“’' Und dies immer wieder — und vielleicht irgendwann als Ende dessen, was metaphysische Diaspora ist: Es könnte sein, es könnte sein Daß wir zu Staub zerfallen — Vor euren Augen zerfallen in Staub. Was hält denn unsere Webe zusammen? Die Webe — Textur, Text - ist „odemlos“” schon „Abschiedswebe“”°, noch lesbar, der Leser muß bezeugen, was Nelly Sachs bezeugt, wie testamentarisch: „Alles Sterben umfassend“”*... — Doch damit ist das Offene, woraus sich weiterschreiben ließ und läßt, woraus aber auch weiterzuschreiben ist: also gewissermaßen die Mystik, deren Glücken, das, was ahnen läßt: Die Erlösung wird nicht kommen, Paranoia und (so etwas wie) Messianismus bleiben einander tragisch verbunden, in dieser Autobiographie, die keine sein konnte. Aber zusammen hält uns nur noch der Abschied, Der Abschied im Staub Hält uns mit euch zusammen.’ Martin A. Hainz, geb. 1974 in Wien, Germanist, Übersetzungstheoretiker, Universitätslehrer arbeitet derzeit zu „Themen der Globalisierung und der Ich-Konstruktion bzw. Autobiografie“. Anmerkungen 1 Hilde Domin & Nelly Sachs: Briefwechsel, ed. Nikola Herweg & Christoph Willmitzer. Marbach: Deutsches Literaturarchiv Marbach 2016 (=Aus dem Archiv, Bd 9), 43. 2 Nelly Sachs: Fahrt ins Staublose. Gedichte. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988, 58. 3 Ibid. 4 Ibid., 33; vgl. ibid., S.33ff. 5 Iheodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, ed. Rolf Tiedemann et al., Bd 4: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003, 268. 6 Ibid., 66. 7 Vgl. Sachs: Fahrt ins Staublose, S.[402] 8 Vgl. Martin A. Hainz: Aus Rose Ausländers Frühwerk. In: fixpoetry, 12.8.2013 - https://www.fixpoetry.com/feuilleton/kritiken/rose-auslaender/ der-regenbogen (Stand: 1.5.2015) 9 Nelly Sachs: Leben unter Bedrohung, zit. nach Walter A. Berendsohn: Nelly Sachs. Einführung in das Werk der Dichterin jüdischen Schicksals. Mit einem Prosatext Leben unter Bedrohung, einer Auswahl von 30 Briefen aus den Jahren 1946-1958 und einem Bericht über die Nelly-Sachs-Sammlung in Dortmund. Darmstadt: Agora 1974, 9. 10 Vgl. auch Ruth Kranz-Löber: „In der Tiefe des Hohlwegs“. Die Shoah in der Lyrik von Nelly Sachs. Würzburg: Königshausen & Neumann 2001, 148. 60 ZWISCHENWELT 11 Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, ed. Rolf Tiedemann et al., Bd 6: Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003, 364. 12 Jean-Frangois Lyotard: Der Widerstreit, trans. Joseph Vogl. München: Wilhelm Fink ?1989, 173, Nr 157. 13 Nelly Sachs: Das Leiden Israels. Eli. In den Wohnungen des Todes. Sternverdunkelung. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996, 74. 14 Vgl. ibid., 81ff. 15 Nelly Sachs, zit. nach Ruth Dinesen: Nelly Sachs. Eine Biographie, trans. Gabriele Gerecke. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994, 130. 16 Sachs: Das Leiden Israels, 82. 17 Heinrich Stiehler: Der junge Celan und die Sprachen der Bukowina und Rumäniens. In: An der Zeiten Ränder. Czernowitz und die Bukowina. Geschichte ® Literatur ® Verfolgung ¢ Exil, ed. Cécile Gordon & Helmut Kusdat. Wien: Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft 2002, 115-128, hier 123. 18 Martin A. Hainz: Paul Celan. Fadensonnen, -schein und -kreuz. Hamburg: Dr. Kovac 2009 (=Poetica, Bd 106), 92. 19 Stiehler: Der junge Celan und die Sprachen der Bukowina und Rumäniens, 121. 20 Vgl. Gabriele Fritsch-Vivie: Nelly Sachs. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1993, 88. 21 Sachs: Das Leiden Israels, 71. 22 Rose Ausländer: Gesammelte Werke in sieben Bänden [und einem Nachtragsband mit dem Gesamtregister], ed. Helmut Braun. Frankfurt/M.: S. Fischer Verlag 1984ff., Bd 5, S.163 23 Paul Celan: Gesammelte Werke in fünf Bänden, ed. Beda Allemann, Stefan Reichert & Rolf Bücher. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 1986 (=suhrkamp taschenbuch 1331), Bd 1, 5.42 u. Bd 3, S.64 24 Julia Kristeva: Black Sun. Depression and Melancholia, trans. Leon S. Roudiez. New York, Chichester: Columbia University Press 1989 (European Perspectives), S.7 25 Peter Hamm: Das Leben hat die Gnade, uns zu zerbrechen. In: Die Zeit, 8.10.1993 — http://www.zeit.de/1993/41/das-leben-hat-die-gnade-uns-zuzerbrechen/komplettansicht (Stand: 16.3.2017) 26 Vgl. Fritsch-Vivie: Nelly Sachs, S.150f. 27 Paul Celan u. Ilana Shmueli: Briefwechsel, ed. Ilana Shmueli & Thomas Sparr. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 2004, S.42 28 Vgl. Aris Fioretos: Flucht und Verwandlung. Nelly Sachs, Schriftstellerin, Berlin/Stockholm, trans. Paul 3Berf. Berlin: Suhrkamp Verlag 2010, S.230 29 Ibid., 5.231 30 Ibid., S.230 31 Nelly Sachs: Späte Gedichte. Frankfurt/M.: Suhrkamp '?1978 (=Bibliothek Suhrkamp 161), S.223 32 Dinesen: Nelly Sachs, $.19 33 Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, ed. Rolf Tiedemann et al., Bd 3: Max Horkheimer & Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 2003 (=suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1703), 5.92 34 Ibid., Bd 6, S.355f. 35 Dinesen: Nelly Sachs, $.19 36 Celan: Gesammelte Werke in fünf Bänden, Bd 2, $.72 37 Domin & Sachs: Briefwechsel, S.79 38 Nelly Sachs, zit. nach Dinesen: Nelly Sachs, S.20 39 Paul Celan u. Nelly Sachs: Briefwechsel, ed. Barbara Wiedemann. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 1996 (=suhrkamp taschenbuch 2489), 5.42 (hier unter Anführungszeichen) sowie Celan: Gesammelte Werke in fünf Bänden, Bd 1, S.214f. 40 Celan u. Sachs: Briefwechsel, $.41 sowie Celan: Gesammelte Werke in fünf Bänden, Bd 1, 5.214 41 Vgl. etwa Gottfried Wilhelm Leibniz: Die Theodicee, trans. J[ulius] H. von Kirchmann. Leipzig: Dürr 1879 (=Philosophische Bibliothek, Bd 71), S.7E. 42 Immanuel Kant: Werkausgabe in 12 Bänden, ed. Wilhelm Weischedel. Vol. XI: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag '°1993 (=suhrkamp taschenbuch wissenschaft 192), S.243 B I5f., A 90; vgl. auch etwa Otfried Höffe: „Königliche Völker“. Zu Kants kosmopolitischer Rechts- und Friedenstheorie. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 2001 (=suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1519), passim 43 Vgl. etwa Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, ed. Giorgio Colli & Mazzino Montinari. Bd