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so weit, dass ihr vergessen habt, wer ihr seid? Ausdrücke wie Ukry,
Chochly, Majdanutye und ähnliche Beleidigungen, mit denen sol¬
che Aussagen oftmals „angereichert“ wurden, übersetze ich nicht.

Die ukrainischen Entgegnungen fielen in diesem Falle cher
lauwarm aus. Neben den üblichen Angriffen auf „Putler“ (Putin)
und die Beschimpfung der russischen Gesprächspartner als Kazapy,
Moskali, Watniki und Bydlo (das iibersetze ich jetzt ebenfalls nicht)
bekannten einige (wiewohl natiirlich nicht alle) kleinlaut, dass sie
sich als Ukrainer fiir diesen Clip schamten. Was dem Regisseur
denn eingefallen sei, ein Video, welches das nationale Gefühl
bedienen und bei den Betrachtern Ergriffenheit und Identifika¬
tion auslösen solle, mit „diesen Negern zu verunstalten“. Wer sie
überhaupt seien, wird gefragt. Adoptiert? Aus gemischten Ehen?
Als ob das von Bedeutung wäre...

Die Videoclips und die Reaktionen darauf mögen angesichts
der tragischen Ereignisse in der Ukraine, des brutalen Krieges
mit Tausenden von Toten, als Marginalie erscheinen, sind es aber
keineswegs.

Zweifellos: Während des Massensterbens der Jahre 2014-15
(und auch heute sterben Menschen trotz Waffenstillstand in die¬
sem Krieg) wurden die Massenmedien — wie in jedem Krieg —zu
Propagandazwecken missbraucht, das Internet mit widerwärtiger
nationalistischer und rassistischer Propaganda, mit Desinforma¬
tion und Lügen, Beleidigungen, Angriffen und Drohungen der
übelsten Sorte zugemüllt. Rassismus und Antisemitismus sind in
beiden Ländern leider immer noch sehr stark, und eine extreme,
äußerst widerwärtige Homophobie verbindet Menschen aller
politischen Überzeugungen und Bildungsschichten. Verglichen
mit dem, was sich die Anhänger der Ukraine und jene Russlands
an manchen Stellen schrieben oder immer noch schreiben, lesen
sich die Kommentare auf der Facebook-Seite von H.C. Strache wie
nette Komplimente auf hohem sprachlichen und intellektuellem
Niveau (okay, jetzt übertreibe ich ein bisschen).

Jene, die nicht selbst töten und sterben, aber die Befehle dazu
erteilen, sorgten für einen Krieg der Worte, der in Zeiten des In¬
ternets fast alle zu erreichen vermag, die von diesem Krieg direkt
oder indirekt betroffen sind oder glaubten, davon in der einen
oder andereren Form betroffen sein zu müssen. Im Unterschied
zu früheren Konflikten kann heute zudem jeder sehr bequem zu
Hause am eigenen Computer zum Propagandakrieger werden.
Diese „Couchkämpfer“ und „Sofahelden“ tragen wesentlich dazu
bei, dass der Krieg in den Köpfen vieler Menschen fortdauern
wird...

Die Ästhetik dieses Propagandakrieges ist zu einem großen Teil
sowjetisch. Das geht so weit, dass alte sowjetische Schlager und
Kriegslieder aus dem Zweiten Weltkrieg umgedichtet, ironisch
gebrochen oder auf zynische Weise pervertiert werden, wobei
die erschreckende Tendenz zu schr deftigen Formulierungen der
übelsten Sorte beinahe schon zu einer Selbstverständlichkeit gewor¬
den ist. Sowjetisch ist auch das Nationalitätenkonzept, das hinter
dem erwähnten ukrainischen Video (das lange vor dem Krieg
produziert wurde) steht. Die Präsenz dunkelhäutiger Ukrainer
im „ukrainischen Clip“ hingegen ist eine Reverenz an westeuro¬
päische, mehr kulturell als ethnisch definierte, wiewohl weiterhin
ambivalente Vorstellungen von Nation und Volkszugehörigkeit.

Eines haben der „Westen“ und der „Osten“ gemeinsam: Jegliche
ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Eigenen und dem Ande¬
ren, mit Identität, Selbstverständnis und einer Wahrnehmung der
Welt, die im wahrsten Sinne des Wortes befremdet, bedeutet stets
einen Spießrutenlauf hinab in die Abgründe der eigenen Seele.

Was ist zum Beispiel ein ukrainischer Aserbaidschaner, ein ukrai¬
nischer Russe oder ein ukrainischer Ischuwasche? Die meisten der
10.000 Menschen, die bei der Volkszählung Tschuwasche als ihre
Volkszugehörigkeit angaben, haben sicher nicht Ischuwaschisch
als Muttersprache und wohl kaum Affhınitäten zur tschuwaschi¬
schen Kultur oder Geschichte. Ein Großteil von ihnen spricht
wahrscheinlich Russisch als Erst- und Ukrainisch als Zweitsprache
(bei manchen mag dies auch umgekehrt sein) und lebt schon seit
drei bis fünf Generationen in der Ukraine.

In Frankreich wird (mit Ausnahme von ein paar Rassisten)
niemand Herr Nicolas Sarkozy als französischen Ungarn oder
Michel Platini als französischen Italiener bezeichnen; und bei
uns wird niemand auf die Idee kommen, Herbert Prohaska oder
Hans Peter Doskozil seien „österreichische Tschechen“, obwohl sie
zweifellos tschechische Vorfahren haben. Und was wäre der Herr
Sarrazin? Ein französischer oder gar ein arabischer Deutscher? In
Deutschland gibt es allerdings die Zuschreibung „Deutschtürken“,
was damit zu tun hat, dass Türken eben Türken sind und nicht
mit einer Selbstverständlichkeit als Deutsche angesehen werden
wie beispielsweise die Nachkommen von Hugenotten (wie eben
Sarrazin), auch dann, wenn sie, die Deutschen mit tiirkischem
Migrationshintergrund, gleichermaßen integriert, akkulturiert
oder assimiliert sind.

Kehren wir aber wieder in den postsowjetischen Raum zu¬
rück: Viele von Ihnen werden den historischen Hintergrund für
das dort immer noch vorherrschende Nationalitätenverständnis
kennen: Die Definition der Volkszugehörigkeit (bzw. „Natio¬
nalität“) nach ethnischen Kriterien wurde in der Sowjetunion
Anfang der Dreißigerjahre festgelegt. Durch die Nennung der
ethnischen Herkunft der Eltern in Geburtsurkunden und anderen
Dokumenten und der Festschreibung einer ethnisch definierten
„Nationalität“ (in Wirklichkeit aber Herkunft) in Personalaus¬
weisen, sollten, so die ursprüngliche offizielle Begründung, vor
allem Minderheiten vor der Assimilierung geschützt werden. Bei
Ausstellung eines Personalausweises, den jeder Sowjetbürger nach
Vollendung des 16. Lebensjahres erhielt, konnten sich Kinder,
deren Eltern verschiedene „Nationalitäten“ hatte, für eine der
beiden entscheiden. Ein Konzept der Uneindeutigkeit, Ableh¬
nung und Transkulturalität war nicht vorgesehen. Dabei wurden
unter anderem auch Juden als eigene Ethnie (Volk) definiert.
Die Religionszugehörigkeit spielte hierbei keine Rolle, sondern
ausschließlich die Herkunft. Die verpflichtende Nationalitäten¬
Zuschreibung in Dokumenten diente jedoch schr bald keineswegs
dem Schutz von Minderheiten, sondern war die Grundlage von
Diskriminierung und Verfolgung von Menschen nach rassischen
Gesichtspunkten: Juden, Deutsche, Krimtataren waren davon
besonders betroffen. Ganze Völker wurden unter Stalin deportiert,
verfolgt, stigmatisiert, zu Menschen zweiter Klasse degradiert, bei
der Ausbildung und im Berufsleben benachteiligt; ihren Nach¬
kommen stand kein „Ausweg“ offen. Sie konnten ihre Herkunft
nicht abschütteln, selten verschleiern, und man sorgte dafür, dass
sie sie niemals vergaßen. Das sowjetische Konzept der Nationalität
führte sich dabei selbst ad absurdum. Hatte beispielsweise jemand
einen Vater, der halb Armenier und halb Weißrusse war und sich
als Weißrusse deklariert hatte, und eine Mutter, die halb Tatarin
und halb Udmurtin und laut Pass Tatarin, konnte er sich mit
16 Jahren zwischen einer weißrussischen und einer tatarischen
Nationalität entscheiden. Hätte sich allerdings der Vater mit 16
als Armenier deklariert und die Mutter als Udmurtin, hätte die¬
selbe Person mit denselben Eltern wiederum nur zwischen der

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