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vertriebenen Emigranten, der sich in den Auf¬
nahmeländern zunächst nicht einleben und
erst nach dem Kriegsende an amerikanischen
Universitäten Karriere machen konnte.

Im achten Panel standen zum Abschluss au¬
tobiographische Sammlungen, Archive und
Editionen im Fokus. Die Sprachwissenschaft¬
lerin Anne Betten (Salzburg) berichtete über
ein Interviewprojekt mit deutschsprachigen
jüdischen Emigrantinnen und Emigranten
und Angehörigen der zweiten Generation in
Israel, in dessen Fokus Sprach-, Kultur-, und
Identitätswechsel standen. Sie kam dabei unter
anderem zur Erkenntnis, dass sich bei einem
großen Teil der Emigrantinnen und Emigranten
in Israel ein ausgeprägtes und lebendiges Bil¬
dungsdeutsch erhalten habe. Als einen Grund
hierfür nannte sie, dass viele nie perfekt Heb¬
räisch sprachen und darum weiter Wert aufihr
gutes Deutsch legten. Die Oral History Inter¬
views sind nicht nur wegen der darin erzählten
spezifischen Erlebnisse von Bedeutung, sondern
auch aufgrund ihrer sprachlichen Merkmale, wie
spezifische rhetorische Ausformungen. Maryna
Dubyk (Kiew) analysierte in ihrem Vortrag die

REZENSIONEN

Korrespondenz ehemaliger Zwangsarbeiterin¬
nen und Zwangsarbeiter in Österreich, die um
Entschädigungszahlungen ansuchten, mit der
Ukrainischen Nationalen Stiftung „Verstän¬
digung und Aufarbeitung“. Die Briefe geben
ein einzigartiges Portrait einer vom Schicksal
gezeichneten Generation wieder und zeigen, wie
wichtig es heute ist, sich mit diesen individuellen
Zeugnissen zu beschäftigen. Irene Messinger
(Wien) gewährte in ihrem Vortrag interessante
Einblicke in Fragen der Zusammenarbeit bei
der Herausgabe von Autobiographien gemein¬
sam mit Familienangehörigen. Die Vortragende
arbeitete bei der Veröffentlichung der Lebenser¬
innerungen der Wiener Tänzerin Anita Bild mit
deren Sohn Peter zusammen. Jacqueline Vansant
(Dearborn/Wien) wiederum befasste sich mit
den Herausforderungen bei der Herausgabe ei¬
nes Briefkorpus, den vom NS-Regime als jüdisch
definierte Klassenkollegen zwischen 1938 und
1953 anlegten, um im Exil weiter miteinander
Kontakt halten zu können.

Die interdisziplinäre Ausrichtung der Tagung
im Spannungsfeld zwischen Germanistik, Li¬
teraturwissenschaft, Geschichtswissenschaften

und Sprachwissenschaft ermöglichte einen an¬
geregten Meinungsaustausch über die Gren¬
zen der Disziplinen hinweg und eröffnete neue
Perspektiven für die je eigene Arbeit. Stellen
Historiker vor allem die historische Darstellung
einer Autobiographie in den Mittelpunkt, so
interessieren sich Germanisten, Sprach- und
Literaturwissenschaftler für narrative Strategien,
Sprachreflexionen und Rezeption bzw. Über¬
setzung von autobiographischen Texten. Die
Perspektiven des jeweils anderen zu reflektieren,
erlaubt gewinnbringende Erkenntnis und vor
allem neue Ansätze für eine moderne Forschung.
Die Tagung lieferte einen wesentlichen Beitrag
hin zu einer international orientierten und fach¬
übergreifenden Erforschung von Autobiogra¬
phien zu Exil, Widerstand, Verfolgung und La¬
gererfahrungen und legte einen Grundstein für
neue Kooperationen in diesem Forschungsfeld.

Sarah Knoll, Institut für Zeitgeschichte der Uni¬
versität Wien

„Ich nenne die Gesellschaft, in der wir leben, die
heutige westliche Gesellschaft, eine Gesellschaft
der Zeitzerstörung.“ So beginnt Leander Kai¬
ser seinen Essay — ursprünglich ein Vortrag im
Rahmen der Wiener Vorlesungen — zu einem
Phänomen, das Symptome wie andauernde Ge¬
triebenheit, Unfähigkeit zur Muße, Verengung
der Gegenwart, Konsumismus u.s.w. aufweist.
Eigentlich steht dieses Keine-Zeit-Haben im
Widerspruch zu den arbeitsrechtlichen Errun¬
genschaften (etwa 40-Stunden-Woche, Urlaub,
meist arbeitsfreies Wochenende) und den techni¬
schen Erfindungen (Haushaltsgeräte wie Wasch¬
maschine, Kommunikationstechnologie etc.),
die der Bevölkerung, insbesondere den in abhän¬
gigen Arbeitsverhältnissen stehenden Menschen,
von Werktätigkeit und Hausarbeit freie Stunden
schaffen sollten. Im sozialistisch-marxistischen
Verständnis sollte diese gewonnene Freizeit von
ArbeiterInnen auch verwendet werden, um sich
zu bilden und politisch zu engagieren. Diese
Hoffnung hat sich mitnichten erfüllt.

Den Begriff „Zeitzerstörung“ bezieht Kaiser
auf die „Verschleuderung, falsche Besetzung und
Verteilung von Lebenszeit.“ Auf den rund 50
Seiten des schmalen Bändchens analysiert er die
Gründe für den scheinbaren Gegensatz von ge¬
ringerer Erwerbsarbeitszeit und der Unfähigkeit
oder Unmöglichkeit, sinnvoll und unentfrem¬
det seine Zeit zu verbringen. Die vielgepriesene

Freiheit, die im Spätkapitalismus offeriert wird,
ist nur eine vorgegaukelte, nämlich die Freiheit
zwischen verschiedenen Unterhaltungs- und
Konsumangeboten zu wählen, und somit dem
„Markt“, der „Wirtschaft“, also der Kapitalver¬
wertung zu dienen. Diese Kritik ist nicht neu,
für Leander Kaiser ist die entscheidende Frage
jedoch „die nach der Zeit, die die Menschen
zur Verfügung haben, und wie sie mit ihr um¬
gehen oder - in den bestehenden Verhältnissen
— umgehen können.“ Mit dieser Frage also setzt
sich der Autor auseinander und beschäftigt sich
dabei mit drei zentralen Aspekten der „Zeitzer¬
störung“, nämlich erstens der „Liquidierung
frei verfügbarer Lebenszeit“, die für die Entfal¬
tung der Persönlichkeit und in weiterer Folge
für eine positive Veränderung gesellschaftlicher
Verhältnisse dann eben nicht vorhanden ist. Fin
weiterer Aspekt ist die Verengung des als Gegen¬
wart erlebten Zeitraums, einerseits abgekoppelt
von der Vergangenheit, andererseits auch ohne
tatsächliche Zukunftsperspektive (etwa im Sinne
einer positiven Utopie). Arbeit gestaltet sich oft
nur mehr als Aneinanderreihung von Erledigun¬
gen, was auch immer stärker für die Freizeit gilt.

Zuletzt behandelt Kaiser die „Fehlallokati¬
on von Lebenszeit“, d.h. die Verschwendung
und Zerstörung von Lebenszeit, etwa durch
vorzeitiges unfreiwilliges Ausscheiden aus dem
Berufsleben, Dauerarbeitslosigkeit, prekäre

Arbeitsverhältnisse, lange Arbeitswege u.a. Die
Schäden, die das heute weltweit herrschende
spätkapitalistische System verursacht, können
weder durch den „Sozialstaat“ noch durch
privat organisierte Wohltätigkeit kompensiert
werden. Individuell vermögen sich einzelne zu¬
mindest teilweise diesem System zu entziehen,
wünschens- und erstrebenswert wäre aber eine
gesamtgesellschaftliche Überwindung der men¬
schenverachtenden Strukturen.

Mit Vorschlägen zu einer Problemlösung war¬
tet Leander Kaiser nicht auf, er setzt jedoch eine
gewisse, wenn auch nicht allzu große, Hoffnung
aufdie Umwandlung von Unzufriedenheit und
Wut in Empörung. Ein baldiger Wandel ist wohl
nicht zu erwarten, befürchtet Kaiser, von Defä¬
tismus ist er dennoch weit entfernt. Seine kurze
Abhandlung zur „Zeitzerstörung“ nenntereinen
Bericht, es ist eine präzise, analytische Beschrei¬
bung und Erklärung herrschender Zustände,
dankenswerterweise frei von (guten) Ratschlägen
und einfachen Rezepten.

Jenny Legenstein

Leander Kaiser: Die Gesellschaft der Zeitzerstö¬
rung. Ein Bericht. Wien: Verlag Bibliothek der
Provinzledition seidengasse 2017. 62 5. € 10,¬
(Karl Kraus Vorlesungen zur Kulturkritik, Band
7. Hg. für die Wiener Vorlesungen von Hubert
Christian Ehalt).

Juni 2018 89