Sein Onkel war größer und deutlich kräftiger
als er— immer wenn Ludwik also später als üblich
von seiner Schicht kam, in einem zu grofven Hemd
und einer Hose mit aufgekrempelten Säumen, den
Bund fast am Brustbein, in der Hüfte mit einer
Krawatte oder einem Stück Band geschnürt, muss¬
te er nichts erklären — dann wussten wir, dass er
wieder jemanden gerettet hatte.
Geholfen, nicht unbedingt gerettet, denn wer
ohne die richtigen Papiere aufgegriffen wurde,
der wanderte wieder zurück ins Ghetto oder
wurde, häufiger noch, sofort erschossen. Diese
Zweischneidigkeit schildert Hering ungeschönt
in seiner Erzählung. Die Hauptfigur des Nacht¬
wächters Brzozwoski ist sehr viel weniger hel¬
denhaft als er selbst — es schert ihn nicht, wer
ein- und ausgeht, er will aber nicht beim eine
Hand wascht die andere Spiel mitmachen, aus
Angst doch erwischt zu werden und aus Tragheit,
er will nur seine Ruhe. Durch seine Augen ler¬
nen wir aber alles kennen: das Ghetto, wie es zu
Anfang ist, den Schmuggel, die Fluchtversuche,
dann schließlich den Aufstand und das Elend im
Ghetto danach, der Exodus seiner Landschaft
und seiner Bevölkerung.
Längst schon sind im Ghetto in allen Hausfluren
die Dielenbretter herausgerissen und verheizt wor¬
den, alle Fensterrahmen in den Treppenhäusern,
die Treppengeländer und oft auch die Treppen
selbst. Und jeder noch so kleine Winkel im Ghetto,
jede Kammer, jeder Kellerraum, ist mit Menschen
vollgestopft. Sie drängen sich zusammen, wärmen
sich gegenseitig. Morgens kriechen die Stärkeren
unter den Halbtoten und Toten hervor.
Hering bedient sich einer Sprache ohne Mit¬
leid, aber voller Verständnis, Verständigkeit. Und
das ist vielleicht das wirklich Erschütternde, Gra¬
vierende an seinen Texten, wie sie das Grauen
abbilden und doch nicht kommentieren, nur
einfangen, in jeder Facette — und die meisten
Facetten sind nun einmal grausam, widersinnig.
Auch in der Figur vollzieht sich natürlich eine
Wandlung, aber auch diese Wandlung steht
den Vorgängen ohnmächtig gegenüber. Am
Ende gibt es kein Ghetto mehr, nur noch seine
Geschichte.
Im letzten Text beschreibt Hering die Ausnah¬
mesituation nach dem Warschauer Aufstand,
als sich die polnische Bevölkerung der Stadt
mehrheitlich gegen die Besatzungstruppen er¬
hob, was nach 60 Tagen mit der Kapitulation
der Aufständischen endete und zahllose Exeku¬
tionen und die Verwüstung und Zerstörung von
großen Teilen der Stadt nach sich zog. In der
Phase zwischen dem Ende des Aufstands und
dem Eintreffen der Roten Armee gab es einige
berüchtigte Auffanglager, in denen die übrigge¬
bliebene Bevölkerung untergebracht war und
täglich ums Überleben kämpfen musste. Hering
war mit seiner Familie im Lager „Zieleniak“ und
Nur in Frankreich war 1968 vor allem ein Arbei¬
teraufstand, der sich schon in den Vorjahren an¬
kündigte und die Staatsmacht ins Wanken brachte.
Ich bin 1981 aus Wien nach Paris gekommen.
Hier lernte ich einen entfernten Verwandten
kennen, der mir folgendes erzählte: er war nach
dem Krieg als junger Mann aus der Bukowina
(damals Sowjet-Ukraine) nach Frankreich ge¬
langt und hatte später als Ingenieur in einer
Fabrik eines Stahlkonzerns gearbeitet. Ihm fiel
auf, dass die „Cadres“ (wie in Frankreich höher
qualifizierte Angestellte in mehr oder weniger
leitender Funktion genannt werden) über krasse
Privilegien verfügten. Darunter das Vorrecht,
ihre Ferien in Bungalows zu verbringen, die aus
einem betriebseigenen Fonds gespeist wurden.
Mein Verwandter beschloss, bei den Wahlen
für die Belegschaftsvertretung anzutreten, um
die Ferienanlagen für alle Werksangehörigen zu
öffnen. Dafür brauchte er die Unterstützung
einer anerkannten Gewerkschaftsorganisation.
Während in Österreich unterschiedliche politi¬
sche und gewerkschaftliche Strömungen jeweils
mit einer eigenen Fraktion im Rahmen des ÖGB
vertreten sind, gibt es in Frankreich keine derar¬
tige Dachorganisation: an ihrer Stelle existieren
sieben rivalisierende Gewerkschaftsbünde un¬
terschiedlicher politischer Prägung. Einer die¬
ser Bünde, der kleinste, hat eine konfessionelle
Ausrichtung: der katholische CFTC („Confede¬
ration frangaise des travailleurs chretiens“). In
dem Werk, in dem mein Verwandter arbeitete,
verfügte der CFTC ursprünglich über keinen
„Delegue syndical“ (entspricht in etwa einem
Betriebsratsmandat).
Diesem Zufall war es zu verdanken, dass mein
Verwandter, der aus einer jüdischen Familie
stammte und Zeitlebens ein gläubiger Jude
blieb, ausgerechnet bei der christlichen CFTC
andockte und für diese bei den Betriebswahlen
kandidierte.
Alteingesessene Belegschaftsvertreter versuch¬
ten ihn von seiner Kandidatur abzubringen mit
dem Versprechen, man würde ihm besonders
günstige Bedingungen für Aufenthalte in der
Feriensiedlung einräumen. Er gab nicht nach,
gewann locker sein Mandat und setze sein Wahl¬
versprechen durch: auch Arbeiter konnten nun
Bungalows buchen. Aber aus Angst vor der Re¬
aktion der Vorgesetzten tat es keiner.
Das war in den 1960er Jahren. Natürlich
waren die Hierarchien nicht in allen französi¬
schen Betrieben gleichermaßen starr. Ähnliche
Barrieren bestanden damals auch in anderen
westeuropäischen Staaten — aber wohl in gerin¬
gerem Ausmaß, wenn man die Gepflogenheiten
in der Schwerindustrie etwa in Österreich oder
Deutschland zum Vergleich heranzieht.
seine Beschreibung der Lageratmosphäre nimmt
den größten Teil des Textes ein.
Stellt man die drei Texte nebeneinander, so
scheinen die Texte „Spuren“ und „Zieleniak“
eher Skizzen zu sein, die ein Geschehen fest¬
halten und in die kollektive Erinnerung tragen
sollen; es sind Dokumente der Erlebnisver¬
arbeitung, der Zeitzeugenschaft. Die längere
Erzählung „Das Schlupfloch“ ist dafür ein sehr
gelungenes erzählerisches Werk, kaleidosko¬
pisch, schonungslos und eine gelungene Syn¬
these aus Zeitzeugenbericht und Geschichte, mit
der notwendigen Tiefe in den Personen und der
nötigen Länge für eine Entwicklung, die über
ein Abbilden der Situation hinausgeht.
Das umfangreiche Nachwort stellt die Per¬
son des in vielen künstlerischen Bereichen sehr
umtriebigen Hering vor. Das Buch ist sicher
interessant für alle Leute, die aus der Perspektive
eines Außenstehenden und dennoch Involvier¬
ten etwas über den Alltag im Umgang mit dem
Ghetto erfahren wollen. Es ist kein umfassendes
Dokument, sondern ein Ausschnitt, der aber
in seiner Kürze dennoch für sich stehen kann.
Timo Brandt
Ludwik Hering: Spuren. Drei Erzählungen. Aus
dem Polnischen von Lothar Quinkenstein. Berlin:
Verlag edition.foto TAPETA 2016. 128 5. € 12,80
Wer die 1968er Revolte in ihrer französischen
Dimension erfassen will, muss die autoritär¬
demütigenden Umgangsformen beachten,
unter denen Arbeiter oft zu leiden hatten. Das
Besondere am französischen Mai 1968 ist, dass
es sich um einen der größten und längsten Gene¬
ralstreiks in der Geschichte der Industriestaaten
handelte. Über drei Wochen lang waren zwi¬
schen sieben und zehn Millionen Arbeitnehmer
im Ausstand und tausende Betriebe besetzt.
Die Studentenbewegung, die von Paris schnell
auf sämtliche Städte mit Hochschulen über¬
sprang und landesweit die Gymnasiasten mitriss,
entzündete sich an erstarrten Unterrichtsstruk¬
turen und einem verkorksten Sitten-Korsett.
Aufgestachelt durch Räumungsaktionen der
Polizei, mutierte die Jugendbewegung zu einer
Erhebung gegen das sturmreife Präsidentschafts¬
Regime von General Charles de Gaulle. Aller¬
dings waren die Aktivisten der Jugendrevolte
vielfach bereits erprobte Mitglieder linker Orga¬
nisationen, die schon im Vorlauf des Mai 1968
vor allem Solidaritätsaktionen für streikende
Arbeiter gestemmt hatten.
Denn bereits 1967 und zu Beginn des Jah¬
res 1968 gab es eine Welle von heftigen Streiks
mit Betriebsbesetzungen. Wobei gelegentlich
Werks-Leiter in ihren Büros von den Streiken¬
den eingesperrt wurden.