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der Arbeit zu interpretieren?“!? Dies gleichsam eine rhetorische Frage! Denn Marcuse weiß schr wohl, warum dem Rückbezug und zugleich der Überwindung große Bedeutung zukommen. Es ist die Errettung eines fortschrittlichen Theorieansatzes, der die revolutionare Umgestaltung der Welt nicht an eine Partei delegiert, sondern ans handelnde Subjekt kniipft, was im faschistischen Deutschland so oder so als genuin bolschewistisches und jüdisches Denken diffamiert wird, im amerikanischen Exil dann verständlicherweise auch kaum auf oflizielle Zustimmung wird rechnen können. Dieser Text, Neue Quellen zur Grundlegung des Historischen Materialismus, wird zum Abschiedsgruß an die alte Welt und ist zugleich Eintreebillet in die neue des Exils. Am 30. Januar 1933, dem Tag, an dem Adolf Hitler zum Reichkanzler ernannt wird, tritt Marcuse ins Frankfurter Institut für Sozialforschung ein. Solange Marcuse noch in der Schweiz sich aufhält, übernimmt er die Leitung der Institutsaußenstelle in Genf. Leo Löwenthal hatte die Institutskasse beizeiten über die grüne Grenze ins Ausland geschafft'?, während das Stiftungsvermögen in weiser Voraussicht schon 1931 nach Holland transferiert worden war. '* In direkter Anknüpfung an seinen Aufsatz zu den Neuen Quellen widmet er sich nun den philosophischen Grundlagen des wirtschaftswissenschaftlichen Arbeitsbegriffs. Wieder wird auf die Gestaltungskraft von Arbeit verwiesen, diesmal mit Ausblick auf die Absicherung des „Menschen als eines naturhaft-organisches Wesens“.'” Dazu bedürfe es der Anwendung der wirtschaftlichen Arbeit, wobei Marcuse natürlich wieder darauf beharrt, daß derart „zweckmäßiges Tun“ immer zugleich „vermittelnd-wissendel[s] Tun“ sei.'° Mit anderen Worten: Der Arbeitsbegriff selbst ist multifunktional, er vereint in sich die ganze Vielfalt menschlich-gesellschaftlicher Tätigkeit: Das ist Praxis. Insofern wundert es nicht, daß Marcuse in diesem Zusammenhang auch aufs Spiel zu sprechen kommt als die andere, freiere Form von Arbeit. Trotzdem blieben aber Arbeit und Spiel einander dialektisch verbunden, weil das eine ohne das andere und umgekehrt nicht zu denken sei. Des weiteren reflektiert Marcuse mit Blick auf die sozialen Umbrüche in seiner ehemaligen Heimat über den Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung, der sich zu einem Zeitpunkt der „Konstituierung des total-autoritären Staates“'” widmet, als andere Gesellschaftstheoretiker ihre Beobachtungen über den Nationalsozialismus erst noch sortieren und vor eindeutigen Zuschreibungen zurückschrecken. Marcuse zeigt sich hier auf der Höhe der Zeit. Er findet treffende philosophische Konfigurationen, die in der deutschen Geschichte schon früh vorbereiten, was dann mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten Urständ feiert: ein unbändiger, jede Aufklärung verschlingender „irrationalistischer Naturalismus“'*, der nun rasant um sich greife. Dies zu belegen, läßt Marcuse die Meisterköche aus der Ahnengalerie präfaschistischer Denker Revue passieren. Die Proklamierung eines neuen, faschistischen Menschentyps sieht er vorformuliert „im GeorgeKreis, bei [Arthur] Moeller van den Bruck, [Werner] Sombart, [Max] Scheler, [Friedrich] Hielscher, [Ernst] Jünger“.'” Nur wenige nehmen die politischen Implikationen solch kruder Selbstbeschreibungen aus den Reihen nationalkonservativer, wenn nicht präfaschistischer ‚Geistesarbeiter‘ zur Kenntnis wie beispielsweise diese: „Es erhebt sich ... das Blut gegen den formalen Verstand, die Rasse gegen das rationale Zweckstreben, die Ehre gegen den Profit, [...] Wehrhaftigkeit gegen bürgerliche Sekurität, [...] Staat gegen Gesellschaft, Volk gegen Einzelmensch und Masse“; man 22 _ ZWISCHENWELT fühle sich nicht zuständig oder lächele ob der Schlichtheit eines solchen Philosophieverschnitts. Marcuse dagegen ist hellwach und sogleich um begriflliche Schärfung, das heißt Klärung, bemüht. Für ihn steht außer Zweifel: Die Abwehr philosophischer Aufklärung gehört zum handgreiflich-gewalttätigen Repertoire faschistischer Gegenaufklärung. „Mit voller Einstimmigkeit faßt der heroisch-völkische Realismus alles, wogegen er kämpft, unter dem Titel Liberalismus zusammen. “?° Die von den Nationalsozialisten vertretende sogen. Philosophie des Neuen Lebens bediene sich aus dem Arsenal der Begriffsgeschichte, indem sie aus ihm herausklaube, was ihr nützlich scheine. Wobei die neu-alten Denker die Geschichte zugleich uminterpretierten und schließlich negierten, um eine eigene, eine ganz neue zu behaupten. Dieser Schwindel ums vermeintliche Erbe tritt für Marcuse also schon frühzeitig und offen zutage. „Niemals ist die Geschichte weniger ernst genommen worden als jetzt, wo sie primär auf die Erhaltung und Pflege des Erbes ausgerichtet wird, wo Revolutionen als ‚Nebengeräusche‘, als ‚Störungen‘ der Naturgesetze gelten und wo naturhaften Kräften des ‚Blutes‘ und des ‚Bodens‘ die Entscheidung über Menschenglück und Menschenwürde ausgeliefert wird.“”' Ich habe Ihnen den Aufsatz deshalb genauer vorgestellt, weil er einmal mehr die Weitsichtigkeit Marcuses bezeugt. Dazu kommt, daß er während der ganzen Zeit seines Exils keine vergleichbare Studie zur philosophischen Selbstbestimmung der NS-Ideologie vorlegen wird. Das ist um so erstaunlicher, weil doch die Etablierung der nationalsozialistischen Herrschaft genügend Stoff für weitere Analyse böte. Auch eine dezidierte Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus sucht man vergeblich. Selbstverständlich findet sich in dem Liberalismus-Essay — implizit wie explizit —- wieder die Bezugnahme auf Marcuses philosophischen Scheitelstein, der sein Gedankengebäude sicher zusammenhält: der Begriff der Arbeit. Denn, wie Sie, meine Zuhörer, inzwischen gelernt haben, ist Arbeit Grundvoraussetzung menschlicher Existenzsicherung wie -erfahrung und damit die Agentur für Geschichte. Der von den Nazi-Ideologen beständig aufgerufene „Hymnus auf naturhaft-organische Ordnung“, die gleichsam unumstößlich über allem Deutschen throne, ist obsolet, weil dadurch nur die eine Seite menschlicher Existenzsicherung, die „naturhaft-organische“ mystifiziert wird. Nun: Gerade durch Arbeitam Menschen und an der Natur erst entsteht Kultur; die ständige Transzendierung der eigenen Natur- zur Kulturhaftigkeit macht den Menschen erst zum Menschen. Dagegen besteht der faschistische irrationalistische Naturalismus auf seinem durchgängig postulierten Gesetz: „Die Natur ist als das Ursprüngliche zugleich das Natürliche, Echte, Gesunde, Wertvolle, Heilige.“ In dieser Phalanx von unverrückbaren Entitäten gibt es keinen Raum für eigenverantwortlich tätig werdende Menschen. Im Juli 1934 fliichtet Marcuse weiter in die USA. Löwenthal, seit der gemeinsamen Genfer Zeit mit Marcuse befreundet, folgt ihm schon im August nach. Mit dieser Übersiedelung ändern sich die Lokalitäten für die wissenschaftliche Arbeit. Zuerst finden die Mitarbeiter des Instituts Unterschlupf in der New Yorker Columbia University. Jetzt heißt es Forschungsprojekte auflegen, die auch in den USA von Interesse sein dürften, die aber für die geflüchteten Mitglieder des Instituts vorrangig aus der Perspektive des Kampfs gegen Hitler relevant sind. Marcuse wird beauftragt, zum Problem von Autorität und Familie zu forschen. Das Ergebnis kann er schon 1936 vorlegen: Seine kleine Studie