OCR
REZENSIONEN Als Gerald Nitsche 1990 das große folgenreiche Buch „Österreichische Lyrik und kein Wort Deutsch. Zeitgenössische Dichtung der Minoritäten“ (mit einer exzeptionellen CD, die der ersten hartgebundenen Ausgabe beilag) im Innsbrucker Haymon-Verlag herausgab, verursachte das ungemeines Aufsehen: Was? Da gibt es mitten ‚unter uns‘ kroatische, slowenische, ungarische, Roma-Lyrik sogar — wirklich interessant. Es gab Dutzende Buchpräsentationen, Lesungen mit Autorinnen und Autoren der Anthologiein Österreich, der Schweiz, in Deutschland, Italien, Frankreich. Und das in der traditionsreichen Druckerei Gitterle hergestellte Buch, das mit seinen je individuell gestalteten Seiten funkelte wie ein neu über dem Land aufgegangener Regenbogen, regte vertiefende Forschungen über die einzelnen dort vertretenen Volksgruppen, Sprachen und ihre literarischen Hervorbringungen an. Das Buch wurde nachgedruckt und erschien schließlich im Jahr 2008 in einer den neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen, zusätzlichen Texten (auch in neu hinzugenommenen Sprachen) Raum gebenden und völlig neu gestalteten Ausgabe (wieder bei Haymon) unter dem Titel „Neue Österreichische Lyrik —und kein Wort Deutsch“ mit Vorworten des damaligen Bundesprasidenten Heinz Fischer und der ehemaligen Nationalratsabgeordneten Terezija Stoisits. Nach Erscheinen von „Österreichische Lyrik und kein Wort Deutsch“ gründete Gerald Nitsche, damals in Istanbul wohnhaft, Anfang der 1990er Jahre den EYE-Verlag. Dort wollte er verwirklichen, was ihm schon immer ein Anliegen war: In seinen Veröffentlichungen den „Wenigerheiten“, wie Gerald Nitsche Minderheiten, nach einer sensibel genialen Wortschöpfung von Ceija Stojka, genannt haben will, einen Ort zu geben. Und so sind in diesem Verlag neben anderen immer je besonders künstlerisch gestalteten Bänden (in der Reihe „Neue österreichische Lyrik“) bisher zehn Bände unter dem Reihentitel Am Herzen Europas erschienen. Zu erwähnen waren so pionierhafte Werke wie „Südostwind“, Anthologie der Migration aus Südosteuropa, den Balkanländern, „Sandverwehte Wege“, Anthologie zeitgenössischer sefardischer Dichtung, „Ich hatte ein Zuhaus‘,, eine Sammlung moderner jiddischer Lyrik, „heim.at“, eine Anthologie der Migration aus der Türkei nach Österreich in vielen Sprachen der Türkei. Und es seien im Vorfeld zu dem hier besprochenen jene EYEBücher genannt, die „Fahrenden“ gewidmet sind wie den Jenischen („Jenische Reminiszenzen“ von Romed Mungenast und „Das Jenische in Tirol“ von Heidi Schleich) und den Roma (Gedichtbände von Ceija Stojka, Ilija Jovanovic). Dem Gedenken von Ceija Stojka, Romed Mungenast und Hannes Weinberger ist nun der eben im EYE-Verlag herausgekommene großformatige Band ,,Steine am Weg. Gedichte und Erzählungen“ gewidmet, erschienen als Band 10 in der Reihe „Am Herzen Europas“. Wie aus dem Impressum zu erfahren ist, liegt diese vom Mitherausgeber und EYE-Drucker Bruno Gitterle vorzüglich gestaltete Ausgabe in einer kleinen ersten Auflage von 200 Stück vor. Das ist für dieses sehr gute und außergewöhnlich interessante Buch, das das Ergebnis jahre- und teilweise jahrzehntelanger Forschungsarbeit und Feldforschung ist und einen würdigen Platz neben „Österreichische Lyrik und kein Wort Deutsch“ beanspruchen kann, nicht viel. Es ist zu hoffen, dass bald weitere, größere Auflagen nötig werden. Denn die „Steine am Weg“, die der Herausgeber Gerald K. Nitsche mit Recht sein „bisher wichtigstes Buch“ nennt, versammeln neben all den literarischen und sachlichen Texten (Informationen zu den Sprachen, Volksgruppen, Biografien der Schriftstellerinnen und Schriftsteller) auch teilweise sehr rares historisches und aktuelles Bildmaterial aus verschiedenen privaten Sammlungen und Fotografien, die einen Eindruck vom Leben und den Landschaften der Fahrenden geben. In der Einleitung „Wir sind Fahrende“, in der Gerald K. Nitsche von seinem Leben und seinen Prägungen, die ihn zu seiner Arbeit veranlass(t) en, erzählt, klopft er auch die Sprache nach den in ihr aufbewahrten ‚Erinnerungen‘ an eine existenzielle menschliche Grund-Erfahrung ab und sagt damit sehr viel Bedenkenswertes: Woher kommen Nähe zu und Distanz von den Fahrenden, zunächst einmal etymologisch betrachtet: Unser Wortschatz ließe, lässt erfahren, darauf schließen, dass wir, bzw. unsere Vor- bis Vorvorfahren Fahrende waren, mit ihren Gefährten, Lebensgefährt*innen trotz aller Gefahren, Gefährdung unterwegs, dabei sie, ihre Nachfahren und wir erfahren, erfahrener wurden, an ErFahrenheit gewannen, Erfahrungsschatz sammeln konnten. Mein Fahrrad ist Marke TRAVELLER, reiner Zufall, wie so vieles — oder doch nicht! Nur die eine Fährte, eine wichtige Erkenntnis bei der Spurensuche, ist uns offenbar fahrlässig verloren gegangen, wenn wir, inzwischen sesshaft geworden, auf unseren Sesseln klebend fahrig werden, Gefahr darin sehen, Fremden, Flüchtlingen, anderen Lebensweisen zu begegnen. Und mit all dem wird der Leser auch konfrontiert, bzw. sollte sich damit konfrontieren lassen, wenn er in den „Steinen am Weg“ die bei aller Themenvielfalt immer aus tiefem Erleben schöpfenden, eine besondere existenzielle Grunderfahrung vermittelnden Texte der diversen Fahrenden (und sesshafte gewordenen Fahrenden) liest: in einer Vielfalt von Sprachen und „Tönen“, auch selbstkritischen, bisweilen von einer eigenen Romantik jenseits der allzu gemütlichen „Zigeunerbaron“-Romanik durchdrungen und sehr oft von einer „das innere Eis“ aufbrechenden Schénheit und/oder Radikalitat. Es gilt den Autorinnen und Autoren mit ihren oft sehr verschiedenen Lebenswegen zu folgen und die der Menschheit iiberlassenen ,,Edelsteine, Juwelen von und für unterwegs“ anzusehen und den einen oder anderen — es hat niemand was dagegen — auch mitzunehmen. Der Hauptteil des Buches bringt also Texte von verschiedenen Fahrenden, genauer gesagt den Pavee, Travellers in Irland, den Sämi in Lappland, Skandinavien, den Roma und Sinti und den Jenischen aus Europa. Die Abschnitte werden von Spezialistinnen und Spezialisten ausführlich eingeleitet: Für die Travellers verfasste Gerald K. Nitsche die Einleitung, erzählt von seiner Reise zu ihnen und gibt Ausschnitte aus Interviews mit Travellers wieder, denn „der Tenor der Aussagen im Interview mit Travellers deckt sich, nachträglich betrachtet, in vielem mit den Lebensbedingungen anderer Fahrender — daher hier platziert.“ Und beispielsweise auch das Gedicht von Winnie Kerrigan: ERINNERUNGEN/Y Erinnerungen meiner Kindheit! Von längst vergangenen Tagen! Auf der Reise durch Hügel und Täler! Mein Leben war ein Traumil Ich saß am Lagerfeuer! Hörte den Kessel ‚pfeifen! Ich hatte keine Sorgen/ Denn ich war nur ein Kind// Ich höre noch die Stimmen! Von längst verlorenen Menschen! Ich sehe Orte und auch Lager! Von längst vergangenen Tagen/} Aber das sind alles Erinnerungen! Längst vergangener Zeiten. Über die Sämi schreibt Christine Schlosser, über die Roma und Sinti informieren Beate Eder-Jordan und Melitta Depner. Hier sei nur — pars pro toto — eines der inzwischen dank Gerald Nitsche weithin bekannt gewordenen Gedichte von Ilija Jovanovic zitiert, das bereits in „Österreichische Lyrik und kein Wort Deutsch“ erschienen ist und in den „Steinen am Weg“ nochmals sich zweisprachig abgedruckt findet, weil es seine Aktualität ganz offensichtlich noch nicht verloren hat: BÜNDELH Stets im Bündel gebunden! deine Habseligkeiten, Fremder! die Knoten des Bündels Jestgezogen/ den Stab durch die Knoten geschoben! Jetzt wartest dul auf die Gnade der Behörde! je nachdem hebt} oder! senkt sich! deine Hand mit dem Bündell/ Und suche dich ja nicht! hier zu entfalten! Fremder |...] / Du bist selbst nicht mehr! November 2018 61