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Aber „mutierten“ die Proletarier angesichts der wirtschaftlichen Verbesserungen zu überzeugten „Prolet-Ariern“, und zwar „in ihrer niederschmetternd überwiegenden Mehrheit“, wie Grigat schreibt? Nein, sagt Zollitsch: „Für die politischen Ziele des ‚Dritten Reiches‘ waren die Arbeiter damit aber noch nicht gewonnen. Vielmehr verblaßten die Krisenerfahrungen in den späten dreißiger Jahren mehr und mehr. Eine verstärkte Konfliktbereitschaft machte sich bemerkbar. Die Bestrebungen, die Arbeiterschaft im nationalsozialistischen Sinne zu politisieren, führten zu Rückzugsbewegungen in die Nischen der Privatsphäre, der Freizeit.“'’ Auch Ardelt nennt ein Datum, nämlich den Februar 1934, um die „strukturellen und mentalen Prädispositionen der österreichischen Arbeiterklasse“ hin zum Nationalsozialismus zu erörtern: Der Februar 1934 habe nicht nur die Bedeutung „des Schocks der Niederlage, der Zerschlagung der Organisationen, des Verlustes von ‚Heimat‘, der Desorientierung und des kollektiven Identitätsverlustes“.'® Vielmehr sei angesichts dieses Datums zu fragen, „welche bisher auf die sozialdemokratische Bewegung gerichteten partiellen Identifikationen damit gleichsam (...) disponibel für die Anknüpfung an anderen (...) politischen Bewegungen, vor allem dem Nationalsozialismus, wurden.“'? Dass aus der „Zerschlagung der ‚linken‘ Arbeiterbewegung“ im „Ständestaat“ Prädispositionen der Arbeiter hin zum Nationalsozialismus entstanden seien, seien „Spezifika der österreichischen Entwicklung“, also Besonderheiten gegenüber der deutschen Geschichte: In Österreich seien die Arbeiter „in ein doppeltes Spannungsverhältnis gegenüber dem Austrofaschismus einerseits und dem Nationalsozialismus andererseits gestellt“ worden.” Für Hans Schafranek gab es vonseiten der Nazis eine „breitangelegte Propagandaoffensive, die etwa ab dem 16.2.1934 unter der Arbeiterschaft entfacht wurde“ — dieses „propagandistische Trommelfeuer“ habe „die österreichische Arbeiterklasse im Gefolge des Februar 1934 (...) bestürmt“.”! Die Nazis setzten „das ganze Repertoire an sozialer Demagogie“ ein, „von dem man sich einen Zulaufder führerlos gewordenen Arbeiterschaft erhoffte*.” Sofort begannen die Nazis, „in das politische und psychologische Vakuum vorzustoßen“.”” In einem von den Nazis verbreiteten Flugblatt stand: „Genossen! Ihr habt falschen Götzen gedient, die Euch verließen, die Euch dem Artillerie-Feuer (...) auslieferten, als Ihr Eure Interessen verteidigen wolltet.“”* „Als ständig wiederkehrendes Motiv in dieser Propagandawelle wurde das Bild der ‚heroischen Barrikadenkämpfer‘ strapaziert, die von der ‚gewissenlosen‘, natürlich ‚jüdischen‘ Führung zuerst ‚verhetzt‘ (...) und dann schmählich im Stich gelassen wurden“”, schreibt Schafranek. In einer NSZeitung lautete die Parole: „Rück näher, Bruder!“ Neben der Propaganda gab es auch finanzielle Unterstützung für Arbeiter, die im Februar 1934 in Not geraten waren.” Der Revolutionäre Sozialist Rudolf Holowatij berichtete Otto Bauer in einem Brief im März 1934: „Nationalsozialisten stellen Rechtsschutz, bringen den Familien Geld, zahlen ihnen Miete, bringen manche in Arbeitsstellen und treiben mit den sichersten Mitteln Seelenkauf. Das wirkt sehr auf die Menschen (...).“? Solche „Gesten“, so Schafranek, „verfehlten (...) keineswegs die beabsichtigte Wirkung.“ Ardelt kritisiert, „daß gerade die Historiographie der Arbeiterbewegung (...) der Gefahr erlegen ist, an der Schaffung einer Legende mitzuwirken, die die Geschichte (...) der österreichischen Arbeiterklasse mit Verfolgung und Widerstand gleichsetzt“”. Ardelt hat recht: Es kann nicht gesagt werden, dass „die österreichische Arbeiterklasse“ und mit ihr alle Arbeiter im Widerstand aktiv waren. Es kann aber auch nicht gesagt werden, dass „die Proletarier in 12 ZWISCHENWELT den hiesigen Gefilden in ihrer niederschmetternd überwiegenden Mehrheit zu Prolet-Ariern mutiert waren“. Trotz der Prädispositionen der österreichischen Arbeiter hin zum Nationalsozialismus — Stichtage waren der 24. Oktober 1929 und der Februar 1934 — wurde die NSDAP nie eine Arbeiterpartei. Neben den „attraktiven Verlockungen“ des NS-Systems für Arbeiter, „für die besonders die Institution ‚Kraft durch Freude‘ stand“, „standen“, so Zollitsch, „die Mechanismen des Zwangs, der Repression, des jederzeit abrufbaren Terrors und der Ausschluß jeglicher Alternativen, an denen die Arbeiterschaft sich hätte orientieren können.“?° Das „proletarische Interesse“ hat sich nie mit dem NS-Staat „verbündet“. Die meisten Arbeiter wurden von den Nazis „gebändigt“, aber von ihnen nicht begeistert; sie fühlten sich wohl als „Proletarier“, nicht aber als „Prolet-Arier“. Zum Schluss soll der deutsche Schriftsteller Ernst Wiechert, der von Juli bis August 1938 im KZ Buchenwald war, mit einem Zitat aus seiner „Botschaft an die Lebenden“ zu Wort kommen: „Die Helden und Märtyrer jener Jahre, sie sind nicht diejenigen, die mit dem Kriegslorbeer aus den eroberten Ländern zurückkehrten. Sie sind diejenigen, die hinter Gittern und Stacheldraht zur Ehre des deutschen Namens starben und verdarben. (...) Unter ihnen gab es wenige vom Adel, und nicht sehr viele aus den Reihen des reinen Geistes. Unter ihnen gab es viele aus den Bezirken der Kirche, aber sie alle traten zurück hinter den langen Zügen, die aus den Hütten des armen Mannes bei Tag und bei Nacht ihren Todesweg antraten. Vieler Jahrzehnte Lasten, Hunger und Qual hat der deutsche Arbeiter getragen, Kriegs- und Friedenslasten, aber niemals hat er eine schwerere Last getragen als in diesen zwölf Jahren. Niemals auch eine ehrenvollere, und keine Hand einer dunklen oder hellen Zukunft soll diesen unverzüglichen Glanz von seiner Stirne wischen. Er war es, der mein Leben rettete in dem Lager des Totenwaldes. Er war es, der mit einer Kameradschaft ohnegleichen den Zusammenbrechenden stützte, mit einer Zartheit des Herzens, die mich heute ergreift, Hochverräter einer wie der andere, und Samariter einer wie der andere, die sich niederbeugten und die Wunden wuschen, indes die anderen zur Seite blickten und weitergingen. Ja, die anderen, wo waren sie in den Jahren der Schande und der Zerstörung?! Anmerkungen 1 Timothy W. Mason: Die Bändigung der Arbeiterklasse im nationalsozialistischen Deutschland. Eine Einleitung. In: Carola Sachse, Tilla Spiegel, Hasso Spode, Wolfgang Spohn: Angst, Belohnung, Zucht und Ordnung. Herrschaftsmechanismen im Nationalsozialismus. Mit einer Einleitung von Timothy W. Mason. Opladen: Westdeutscher Verlag 1982, 14. 2 Rudolf G. Ardelt: Arbeiterschaft und Nationalsozialismus — ein Thema zwischen Legende und Realität. In: Rudolf G. Ardelt, Hans Hautmann (Hg.): Arbeiterschaft und Nationalsozialismus in Österreich. Wien: Europaverlag 1990, 20. 3 Ebda., 21. 4 Ebda. 5 Ebda. 6 Gerhard Botz: Arbeiterschaft und österreichische NSDAP-Mitglieder (1926-1945). In: Ardelt, Hautmann (Hg.), wie Anm. 2, 30. 7 Ebda., 40. 8 Ebda., 36. 9 Ebda. 10 Ebda., 37. 11 Ebda., 38. 12 Ebda. 13 Wolfgang Zollitsch: Arbeiter zwischen Weltwirtschaftskrise und Nationalsozialismus. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte der Jahre 1928 bis 1936.