Bei diesem Mangel an konkreten Erfahrungen gab mir eine
Begebenheit - freilich erst lang im Nachhinein - zu denken. Als
ich die Maturaklasse besuchte, war aus Wien ein Probelehrer
gekommen: ein kleiner, leicht dunkelhäutiger, sportlicher Typ
mit gekräuselten schwarzen Haaren. Angeblich ein Jude, wie
uns einer unserer Gymnasiallehrer vermittelte. Mit ihm traf ich
einmal auf der Schipiste zusammen. Wir kamen ins Gespräch
und er fragte mich, was ich studieren wolle. Als ich „Philosophie“
(das war damals gleichbedeutend mit Lehramt an der Philoso¬
phischen Fakultät) zur Antwort gab, meinte er beinahe entsetzt:
„Bloß das nicht! Als Lehrer können Sie nur glücklich werden,
wenn Sie ein Sadist sind.“ So sind sie also, ‚die Juden‘, schoss es
mir durch den Kopf, obwohl es der einzige Mensch war, dem
ich bis dahin bewusst als angeblichem Juden begegnet war. Die
Frage, woher diese latente Abneigung und die Bereitschaft zur
Generalisierung gekommen waren, hat mich damals allerdings
noch nicht beschäftigt, geschweige denn beunruhigt.
Zwischen Philo- und Antisemitismus
Bei mir und einigen meiner Freunde hatte das Interesse an Juden
beinahe so etwas wie eine sportliche Note erhalten. Insbesondere
in Bereichen, die für uns wichtig waren und in denen die Präsenz
von Juden auffallend stark war, wurde unsere Entdeckerfreude
belohnt: in der Musik (z.B. Bruno Walter, dessen letzten Auftritt
in Wien ich noch vom Stehplatz aus miterlebte, Otto Klemperer,
Leonard Bernstein, Clara Haskil, Nathan Milstein, Vater und
Sohn Oistrach und viele andere), in Theater und Kabarett (z.B.
Max Reinhardt, Ernst Deutsch, Gerhard Bronner, Karl Farkas),
in der Literatur (z.B. Franz Kafka, Karl Kraus, Arthur Schnitzler,
Stefan Zweig, Franz Werfel, Joseph Roth, Friedrich Torberg), in
der Malerei (Marc Chagall, Friedensreich Hundertwasser, Arik
Brauer), im Film (Charly Chaplin'’, Stanley E. Kramer, Otto
Preminger), aber auch im Sport (z.B. Jack Kramer, Begriinder
des Profitennis). Diese als kleine Auswahl vorgelegte Aufzäh¬
lung ist auch geeignet, die Ambivalenz der im gegenständlichen
Bereich vorherrschenden Gefühle verständlich zu machen: die
Bewunderung für die besondere Leistungsfähigkeit von Menschen
jüdischer Herkunft in so gut wie allen kulturellen Bereichen auf
der einen Seite und die empfundene Bedrohung von Nichtju¬
den durch die wie immer zustande gekommene Überlegenheit
jüdischer Menschen auf der anderen Seite. Wir waren jedenfalls
bemüht, neben dem von Fundamentalisten jeglicher Prägung
verfochtenen „Wer nicht für mich ist, ist gegen mich“ eine dritte
Möglichkeit zu schen.
Eine kleine Anekdote soll dokumentieren, wie meine speziel¬
le Interessenslage Ende der 50er und noch zu Beginn der 60er
Jahre manche Situationen mitbestimmt hat. In Wien war zu der
Zeit häufig das Amadeus-Quartett zu Gast, was immer einen
Höhepunkt kammermusikalischer Darbietungen bedeutete. Als
ich einmal mit Freunden ein Konzert besuchte, tauchte bei uns
allen — veranlasst durch biographische Hinweise im Programm¬
heft — spontan und gleichzeitig die Mutmaßung auf, zumindest
einer der vier Musiker sei ein Jude. Aber jeder von uns tippte auf
einen anderen, zumal ihre Namen (jedenfalls die Vornamen) für
uns keine Hinweise gaben.'? Äußere Merkmale wurden von uns
nicht als signifikant wahrgenommen. Am nächsten Tag erfuhr ich
von einem Wiener Studienkollegen, dass alle vier Musiker Juden
seien. Drei von ihnen waren aus Wien vor den Nazis nach England
geflüchtet und hatten sich dort in einem Internierungslager um
einen Vierten ergänzt und mit dem Quartettspiel begonnen. Wir
lernten aus dieser Episode, dass es nicht schr klug wäre, jenen
Antisemiten zu folgen, die behaupten, (jeden) Juden sofort an
seinem Äußeren zu erkennen. '*
Anfang der 60er Jahre kam es am Innsbrucker Friedhof zu einer
Schändung jüdischer Gräber. Vertretungen der Studentenschaft,
unter anderen mein Freund Peter Posch, der damalige Präses der
Katholischen Hochschuljugend, haben dagegen Stellung bezogen.
In Wien gab es dennoch in meinem weiteren Bekanntenkreis
einige, die für diesen Vorfall nicht nur eine Erklärung, sondern
auch eine Rechtfertigung suchten: Juden, auch verstorbene, sollten
im öffentlichen Raum womöglich keinen Platz haben, damit jede
Provokation hintangehalten werde.'? Die bekannte Zurückhaltung
führender Politiker, emigrierte Juden nach Österreich zurück¬
zuholen und ihnen hier ihren früheren Besitz und ihre Stellung
(z.B. an der Universität) zurückzugeben, war durchaus geeignet,
Vorbehalte gegenüber Juden mit einer scheinbaren Berechtigung
auszustatten. Noch galt politisch uneingeschränkt die „Opferthe¬
se“, der zufolge es nur schaden könne, Themen wie Judenverfol¬
gung (bzw. -vernichtung) und Mitwirkung an NS-Verbrechen
zur Sprache zu bringen. Erst nach 1990 hat Franz Vranitzky als
Bundeskanzler ein differenziertes Bekenntnis abgelegt.
Für mich und meine Freunde war die Grenze des Tolerierbaren
mit jenem Vorfall selbstverständlich überschritten.'° Zu wissen
bzw. herauszufinden, wer der für uns neuartigen und durchaus
interessanten Gruppe der Juden angehört, war das eine; primitiver
Hass und Gewalt das andere. Zu beurteilen, wie sicher die Grenzen
zwischen einem quasi ideologiefreien Interesse am Jüdischen und
antisemitischen oder auch philosemitischen Tendenzen jeweils zu
ziehen wären, das heißt, der Bereitschaft negativen oder positiven
Vorurteilen oder Unterstellungen völlig zu widerstehen, war ich
sicher (noch) nicht im Stande. Aber wie war es zu einer solchen
Bereitschaft gekommen?
Der entscheidende Denkanstoß: Heinrich Heines Fragment
Eines Tages fiel mir, nachdem ich mir eine wohlfeile Taschen¬
buchausgabe von Heinrich Heines Werken gekauft hatte, ein
Text in die Hände, der mir einen subjektiv wichtigen Denkimpuls
vermitteln sollte: „Der Rabbi von Bacherach“, ein Fragment aus
dem Jahre 1840 (Bd. VII, S. 11 ff.). Darin wird berichtet (ich
fasse zusammen):
In Bacherach wird gerade die Abendfeier des Paschafestes be¬
gangen. Da treten zwei fremde Männer in den Saal und bitten,
teilnehmen zu dürfen. Der Rabbi gewährt es ihnen. Da bemerkt
seine Frau Sara, wie sein Antlitz plötzlich erstarrt. Er hat zu sei¬
nen Füßen den Leichnam eines Kindes entdeckt, den ihm die
unbekannten Neuankömmlinge offenbar unterschieben wollen.
Er verständigte sich lautlos mit seiner Frau. Beide verlassen unter
einem Vorwand das Fest und eilen zum Rhein, um sich zum
rettenden anderen Ufer übersetzen zu lassen.
Dieser Text — obwohl fiktional — hat mich kolossal aufgeregt,
als wäre er nach der Shoah geschrieben worden. So viel an furcht¬
barer prophetischer Ahnung schwingt gleichzeitig in ihm aus der
europäischen Geschichte mit. Plötzlich zuckten durch meinen
Kopf Bilder, die ich schon in einen bedeutungsarmen Hintergrund
verdrängt hatte. Hatte es auch in Rinn oder Lienz wie in Bacherach
Menschen gegeben, die nicht davor zurückschreckten, aufinfame