Korrespondent der Zeitung „Le Figaro“ wurde Marcel Ray,
nachdem sein Vorgänger im Dezember 1912 gekündigt hatte.
Marcel Ray brauchte die „300 f[rancs]“ im Monat dringend, wie
er in einem Briefan Valery Larbaud schrieb, doch fürchtete er, dass
ihn die ganze Tagespolitik furchtbar auf die Nerven gehen könnte.”
Feind faulfeiger Schriftstellerei
Im Sommer 1913 erschienen in mehreren Heften der von Lud¬
wig von Ficker herausgegebenen Zeitschrift „Der Brenner“ die
Antworten auf eine Rundfrage zu Karl Kraus mit insgesamt 30
Beiträgen, darunter von Else Lasker-Schüler, Richard Dehmel,
Frank Wedekind, Thomas Mann, Peter Altenberg, von dem Marcel
Ray übrigens ebenfalls Gedichte für die „Cahiers d’aujourd’hui“
übersetzte, Adolf Loos, Otto Stoessl, Arnold Schönberg, Willy
Haas, Albert Ehrenstein, Hermann Broch, Stefan Zweig, Oskar
Kokoschka. Die meisten AutorInnen hatte Adolf Loos vorge¬
schlagen,‘ der mit folgenden Worten den Beitrag Marcel Rays
beisteuerte:
Ich sende Ihnen eine Zuschrift. Professor Marcel Ray, Univ. in
Montpellier, ist einer der bedeutendsten Germanisten Frankreichs.
Lebt dieses Jahr in Wien. Vielleicht Fußnote notwendig.
[...] Immer Ihr Adolf Loos
[...] Hermann und Genia Schwarzwald würden sich sehr freuen,
Sie Beide in Wien zu sehen.”
Folgende Antwort Marcel Rays auf die Rundfrage lag dem Brief
bei und wurde in Folge auch publiziert:
Karl Kraus, der Unbequeme, oder Wiens böses Gewissen. Er stärkt
den Wienern das Rückgrat, indem er ihnen Fufstritte versetzt.
Seitdem ich Karl Kraus kenne, glaube ich, den Fall Savonarola zu
begreifen. Auch Savonarola wird wohl ein Künstler gewesen sein, dem
die Kunstbegeisterung der Florentiner zum Ekel wurde.
Karl Kraus Dank zu sagen, habe ich dreifachen Grund. Den in
Wien lebenden Ausländer rettete er von der Schlafkrankheit. Den
Feind faulfeiger Schrifistellerei ermutigt er, hohe Anspriiche an die
deutsche Sprache zu stellen. Den Europäer versöhnte er mit dem
Österreichertum.°
Im Sommer 1914 waren die Brenner-Hefte der Kraus-Rundfrage
längst vergriffen und Marcel Ray hielt als Korrespondent des „Le
Figaro“ die französischen LeserInnen über die Entwicklung in der
Hauptstadt der k.u.k. Monarchie am Laufenden. Dank Karl Kraus
und der meist pazifistischen Intellektuellen im Umfeld von Eugenie
Schwarzwald bekam er ein profundes Bild der innenpolitischen
Entwicklung, dementsprechend lang und ausführlich waren seine
Artikel im „Le Figaro“.
Marcel Ray hatte in der ersten Augustwoche 1914 Wien fast
Huchtartig in Richtung Schweiz verlassen und alle Möbel, Bücher
und Unterlagen in der Kaiserstraße zurück gelassen.*” Er war, so
Paul Stefan, von seinen „trauernden Wiener Freunden an den
Bahnhof geleitet worden“.”® Schon am 18. August 1914 schrieb
er aus Genf in einem Bericht für „Le Figaro“, dass es in Wien
Gerüchte über eine sozialistische Revolution in Frankreich gebe.”
Da Marcel Ray für den Militärdienst untauglich und beim „Le
Figaro“ eher unglücklich war, wechselte er 1915 zum „Le Petit Jour¬
nal“, dessen Korrespondent er in Zürich wurde. „Le Petit Journal“
war zu diesem Zeitpunkt noch eine bürgerlich-republikanische
Zeitung. Sie sollte erst in den 1930er-Jahren nach einem Besitzer¬
wechsel zum Kampfblatt der französischen FaschistInnen werden.
Auch publizierte Marcel Ray Beiträge in Avantgarde-Zeitschriften,
so in der letzten Nummer der Züricher Zeitschrift „Der Mist¬
ral“; Herausgeber war Walter Serner. In der Ausgabe Ende April
1915 erschienen neben einer großen Anzahl von Beiträgen des
Herausgebers und einer Peter Altenberg-Besprechung des „Die
Aktion“-Mitarbeiters Max Hermann-Neiße „Briefstellen von
Marcel Ray“. In Marcel Rays Briefen wird über das Schicksal
der in Frankreich verbliebenen, teils pazifistischen Intellektuellen
wie Andre Gide, Paul Claudel, Leon Werth, Valery Larbaud und
Bernardt Groethuysen, der sich langweile und seine Spaziergänge
unter Polizeiaufsicht verrichten müsse, berichtet.”' Doch Marcel
Ray wird in der Schweiz nicht nur Walter Serner treffen, sondern
auch andere österreichische Kriegsgegner. So schrieb Marcel Ray
an Valery Larbaud am 27. Februar 1916 aus Zürich:
J'ai passé la semaine derniere 3 jours avec Karl Kraus, a St. Moritz,
dans cing pied de neige. Ila ecrit des choses tres bien sur la guerre, quil
commente avec un pessimisme vraiment cosmique.”
Nach dem Ersten Weltkrieg, der für vier Jahre lang alle Bezichun¬
gen, jede Zusammenarbeit der Intellektuellen aus den deutschspra¬
chigen Ländern mit Paris unterbrochen hatte, wurde die Arbeit
sofort fortgesetzt. Schon 1920 setzte sich Marcel Ray dafür ein,
George Grosz in Paris bekannt zu machen.? 1927 veröffentlichte
Marcel Ray eine Monografie über George Grosz.” Dieses einzige
Buch, welches Marcel Ray geschrieben hat, war zugleich das erste
in Frankreich über den deutschen Künstler.
Gleichzeitig setzte Marcel Ray als Journalist seine politischen
Analysen fort, zuerst im Massenblatt „Le Petit Journal“, für das
er vor allem im Fernen Osten unterwegs war und dessen Res¬
sort „Außenpolitik und Kolonien“ er von 1928 bis 1931 leitete,
weiters als Gastautor z.B. in der „New York Times“. Seine um¬
fangreichsten politischen Essays und Reportagen publizierte er
in der Zeitschrift „LEurope nouvelle“ von Louise Weiss, von der
auch immer wieder politische Kommentare zu Frankreich in der
„Neuen Freien Presse“ abgedruckt wurden, und Philippe Miller,
einem ehemaligen Schulfreund und Studienkollegen, der ein
international renommierter Journalist war, dessen Artikel man
oft in österreichischen Zeitungen, vom „Arbeiterwillen“ bis zur
„Neuen Freien Presse“, zitierte.
In der Berichterstattung über Frankreich wird Marcel Ray
noch 1931 als einer der „Gewaltigen der französischen Presse“
bezeichnet.” Doch schon Anfang 1932, als sich im Parlament
die nationalistischen Republikaner um André Tardieu gegen die
pazifistischen Republikaner um Edouard Herriot und Aristide
Briand, der im Marz starb, eine Zeit lang durchsetzen konnten,
gab es in Paris, wie man selbst in Wien berichtete, ein „furchtbares
Aufräumen“, eine „Säuberung“ der Presselandschaft, als deren
Opfer auch Marcel Ray erwähnt wird. Man sprach sogar vom
„Untergang der bürgerlichen Pressefreiheit“.
Ein weiteres Opfer dieser Säuberungen war Jules Sauerwein, der
politische Chefredakteur der Zeitung „Le Matin“. Diese Zeitung
sollte sich ab 1932 von einer Aristide Briands Friedenspolitik
nahestehenden Publikation in eine rechtsextreme verwandeln.
Jules Sauerwein hatte in Wien studiert und sich mit Friedrich
Eckstein angefreundet. Diese Vorgeschichte machte ihn zu einem
guten Kenner der österreichischen politischen Landschaft. Auch
schrieb er regelmäßig für die Wiener Zeitung „Die Stunde“, so
auch ausführlich, als man in Frankreich unter Tardieu schon von