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36. Jg. Nr. 3a „Konvent der Bücher“ Gegen die Einsamkeit der Autobiografien Menschen, die im Faschismus und Nationalsozialismus verfolgt, vertrieben wurden und Widerstand leisteten, haben uns viele schriftliche Zeugnisse hinterlassen, die fortbestehen, auch wenn sie selber nicht mehr Zeugnis ablegen können. Sie erzählen darin von ihrer Kindheit und Jugend, ihren beruflichen Ambitionen, politischen Plänen, kulturellen Prägungen, und sie erzählen von den vielen, oft so verschiedenen Stationen eines mehrfach durch gewaltsame Brüche aus der Bahn geratenen Lebens. Wer eine Autobiografie schreibt, tut das mit größter Konzentration und stellt sich seine Fragen selbst. Sie oder er möchte nicht nur den eigenen Kindern und Enkeln etwas über ihre Herkunft erzählen, sondern setzt auch einen Akt bewußten Widerstands — gegen ein Vergessen, das nur den auf Wiederholung blutigen Wahns Sinnenden helfen kann, gegen die Banalisierung des Geschehenen und die Herabwürdigung der Verfolgten, der „Opfer“, zu einer bloß ziffernmäßig erfassten Masse. Vor einem Jahr verkündete der Österreichische Rundfunk den Beginn einer „Neuen Erinnerungskultur“. Der Beitrag hob mit der Feststellung an: „73 Jahre nach Kriegsende verändert sich mit dem allmählichen Verlust der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen auch das Gedenken an den Holocaust. Die Medien übernehmen das Erinnern ...“ Und zwar, wie es wörtlich heißt, durch „Einsatz“ neuer Mittel, als da sind „Computerspiele, Onlineplattformen, Apps“. Gefilmte Interviews mit ZeitzeugInnen sollen deren Verlust kompensieren. Mit keinem Wort wird erwähnt, dass die Verfolgten schriftliche Zeugnisse hinterlassen haben, die es in der Tat zu würdigen gilt. Aber in einer Welt, in der alles verfügbar und verwaltbar sein muss, werden die einst Verfolgten nur als Funktionalisierbare Elfriede Jelinek Das flüchtige Jetzt In der Stille oder im Lärm, der Verwandte umgibt, ahnt man heimlich, daß man mit ihnen zusammenhängt, daß sie dazu aber auch noch in ihrem eigenen Zusammenhang sozusagen schwimmen, daß sie umschlossen werden von ihrer Geschichte, jeder von seiner, und die Geschichte ist oft keine schöne Stelle im Gras, die man sich aussuchen kann, um sich niederzusetzen und auszuruhen. [...] Euro 3,- SFr 4,benötigt. Als Filmmaterial lassen sie sich leichter in geläufige Schemata einfügen. Wenn wir einen „Konvent der Bücher“ ausrufen, geht es uns um ein Eintreten für die Würde der Verfolgten, geht es uns um die Erschließung eines ungeheuer reichen Bestandes von biografischen Zeugnissen, um einen Zugang zur politischen Aufklärung, der sich den Verfolgten und dem Widerstand verpflichtet weiß. Wir fangen heuer an, indem wir einige Jugenderinnerungen von später Verfolgten zur Sprache bringen, im Wissen, dass Widerstand, heute wie damals, nicht aus der Pistole geschossen kommt, sondern im Leben eines Menschen immer eine Vorgeschichte hat, ein Streben nach Wahrheit und Gerechtigkeit etwa, das nicht in Zynismus ertränkt worden ist. Wir wenden uns an alle, die Autobiografien Verfolgter mit Anteilnahme gelesen und für sich entdeckt haben, an die HerausgeberInnen und VerlegerInnen ebenso: Macht mit, veranstaltet Lesungen, schreibt kleine Einführungen in die Texte oder schickt uns Vorschläge — wir fangen heuer mit dem „Konvent der Bücher“, der Begegnung der Auotobiografien an und wollen jedes Jahr mit wechselnden Schwerpunkten fortsetzen. Alexander Emanuely, Konstantin Kaiser, Verena Mermer Mit Unterstützung des Vereins zur Förderung und Erforschung der antifaschistischen Literatur, der Theodor Kramer Gesellschaft, des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus Gerade deshalb muß immer wieder zu uns geredet werden, über die Menschen vergangener Zeiten und ihre Wahrheit, die gleichzeitig ihr Leben war. Und am besten ist, wenn diese Menschen selber sprechen, auch wenn sie schon im Abreisen sind. Elfriede Jelinek: „Das flüchtige Jetzt“. In: Claire Felsenburg: Flüchtlingskinder. Wien 2002, 7f