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— zu entrinnen wünscht. Die Logik, die ich hier meine, ist allerdings Märchen-Logik. Die innere Kontinuität, der lebendige Zusammenhang der Erlebnisse, welche die Erinnerung lebendig erhält, ist, was ich „Idealität“ nennen würde. Daich deutsch und humanistisch geschult bin. Man mißt die Tatsachen an dem Ideal, das man von sich selbst hat, und biegt sie sich zurecht. Es gilt da Biegen und Brechen. Wer dieses biegende „Man“ ist, das am Biegen zu zerbrechen in Gefahr ist, darüber streiten sich die Psychoanalytiker. Aber sie haben es, die Psychoanalytiker, wesentlich leichter als der Psycho-Synthetiker, der jeder Mensch ist, und, auf Gedeih und Verderb, zu sein hat. [...] Ich wollte, ich wäre dieser Knabe wieder, um seines Umgangs mit den jüdischen Propheten willen. Er kannte sie alle, er unterschied ihre Gesichter, ihre Bärte, ihren Stil, ihr Schicksal, die Merkmale ihrer Innerlichkeit: Natürlich zählte er sich zu ihnen, glaubte — mit bangen Zweifeln - einer von ihnen zu sein. Das war sein frühestes Geheimnis. Gott hatte auch ihn berufen, glaubt er oft. Und in langen Nächten legte er brennende Rechenschaft ab. Diese Nächte, eine nach der anderen, waren ein endloses Zwiegespräch mit dem unsichtbaren Partner, mit ihm, von dem man sich kein Bild machen darf und nie eines machen durfte, weshalb er sich rein erhalten hat. Denn er ist nichts als der Brennpunkt der Seele, das Ziel, wohin die Wünsche und Ängste sich wenden, der Ort aller Bedenken, aber auch aller Weisungen und Befehle. Er ist nicht der brennende Dornbusch und nicht die ziirnende Wolke. Das alles sind nur seine Zeichen und Merkmale, die Blindensprache, die er den Menschen gegeniiber (deren Sehen ja nur eine Form fer, Judith Hübner Zwei Wege ein Ziel PMOL aL TL ML Tele ZWEI WEGE EIN ZIEL Zwei Frauenschicksale zwischen Wien und Jerusalem Das Buch zweier Freundinnen, die auf getrennten Wegen nach Jerusalem gelangt sind. Hier wurde Gerda Hoffer zur Schriftstellerin, Judith HUbner schlieBlich zur Vizebürgermeisterin und Ehrenbürgerin. Beide wurden 1921 in Wien geboren. Gerda wuchs in einem liberalen, linken Umfeld auf, Judith stammt aus einer jüdisch-orthodoxen Kaufmannsfamilie. Beide mussten vor den Nationalsozialisten flüchten. Viele ihrer Freunde und Verwandten, Judiths Eltern und Schwester, Gerdas Jugendliebe wurden ermordet. In Jerusalem wurden Gerda und Judith Freundinnen. Ihre Erinnerungen berichten von zwei sehr verschiedenen Erfahrungen und einem gemeinsamen Ziel: Jerusalem. Gerda Hoffer, Judith Hübner: Zwei Wege ein Ziel- Zwei Frauenschicksale zwischen Wien und Jerusalem. Hg. von Evelyn Adunka und Konstantin Kaiser. Wien: Theodor Kramer Gesellschaft 2011. 248 Seiten. ISBN: 978-3-901602-42-9. Euro 21,00 Blindheit, eine Blendung durch die Dinge ist) gebrauchen muß. Aber er ist keine Abstraktion, kein Gespenst und Schemen, kein Gedankengeriist — denn er ist die leidenschaftliche Zuwendung zu ihm, dem oft so leidenschaftlich Abgewendeten. Nur leidenschaftliche Seelen können mit ihm umgehen. Und nur wer die Wüste kennt, weiß, wo auf Erden er zuerst „erschienen“ ist. Aus: Berthold Viertel: Kindheit eines Cherub. Autobiographische Fragmente. Studienausgabe Band 2. Wien 1991, 15-18. Berthold Viertel, geboren am 28. Juni 1885 in Wien, gestorben am 24. September 1953 in Wien. Schriftsteller, Dramaturg, Regisseur, Essayist und Übersetzer. 1910/11 Mitarbeiter der „Fackel“, 1912-14 Regisseur und Dramaturg der Wiener „Freien Volksbühne“, 1914-17 Militärdienst, danach Theaterkritiker und Feuilletonredakteur beim „Prager Tagblatt“ (Kontakt zu Franz Kafka und Max Brod). 1918 Heirat mit der Schauspielerin Salomea Steuermann, bekannt als Salka Viertel (1889-1978). 1918-23 Regisseur in Dresden und Berlin, 1923 gründete er das expressionistische Theater „Die Truppe“ in Berlin, 1925-28 bei Theater und Film in Deutschland tätig und 1928-47 in den USA und in Großbritannien. Kehrte 1947 nach Europa zurück und war 1948 Regisseur in Zürich sowie 1949-53 in Wien, Berlin, Zürich und bei den Salzburger Festspielen: legendäre Inszenierungen der Dramen Tennessee Williams („Glasmenagerie“, „Endstation Sehnsucht‘) in eigener Übersetzung am Wiener Akademietheater. www.theodorkramer.at Sophie Roth Erika Bezditkova Louise Werner Für mein Schurlikind Tngebrach 1940-1944 .-- aber mir hat der Marxismus besser gefallen!“ Mein langes Schweigen Erinnerungen 1931 bis 2001 Louise Werner „... ABER MIR HAT DER MARXISMUS BESSER GEFALLEN!“ Erinnerungen 1931 bis 2001 Louise Werners Leben beginnt mit einer Kindheit im Roten Wien und unter dem Austrofaschismus. Kurz vor ihrem zehnten Geburtstag muss sie die Machtergreifung der Nationalsozialisten miterleben. Ihr nach den Nürnberger Gesetzen jüdischer Vater, Angehöriger einer Widerstandsgruppe, wird 1944 im KZ Warschau ermordet. Als überzeugte Sozialistin kritisiert Werner die großen Versäumnisse nach der Befreiung. Sie sieht sich erneut mit autoritären Denk- und Handlungsmustern konfrontiert, mit den Auswirkungen rechter Männerbündelei und politischer Seilschaften auf das „Private“, auf Frauen und Kinder. Louise Werners Autobiographie liest sich als Lehrbuch für konkrete Empörung. Nicht ein Distanzieren und Verachten wird nahe gelegt, sondern ein genaues Benennen und Bekämpfen dessen, was schief lief in der Zweiten Republik - im Hinblick auf die Rechte und Lebensentwürfe der in der NS-Zeit Zurückgesetzten und besonders der Frauen. Louise Werner: „... aber mir hat der Marxismus besser gefallen!“. Erinnerungen 1931 bis 2001. Wien: Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft 2018. 200 Seiten. ISBN 978-3-901602-76-4. Euro 18,00 November 2019 9