regelmäßig das Theater. Große Schauspieler wiederum sind Gast
in den Privathäusern.
Die Welt der Literatur darf in einem Roman, von dessen drei
Protagonistinnen zwei Autorinnen sind, nicht fehlen: Es ist zu¬
nächst die Wiener literarische Szene mit Grillparzer, Stifter und
Bauernfeind, die auch direkt in Erscheinung treten. In München
gibt es Kontakt zu Friedrich v. Bodenstedt und Paul Heyse. Sogar
mit Turgenew macht man in Baden-Baden Bekanntschaft, seine
Novellen werden hochgeschätzt im Unterschied zum „Naturalis¬
ten“ Dostojewski, dessen „Erniedrigte und Beleidigte“ aber dann
doch Gnade finden. Die Literatur ist aber auch unmittelbar im
Text mit den vielen Gedichten Bettys vertreten, so dass nicht nur
die Dichterin selbst zu Wort kommt, sondern der Leser auch
einen guten Einblick in deren Werk erhält. Die Stimmen der
Heldinnen, der Dichterin, der Hausfrau und der Gräfin sind
aber vor allem in unzähligen Briefen präsent, die im Original in
den Text eingefügt sind — hier nimmt der Roman bisweilen die
Form des Briefromans an. Auch diese Briefe tragen zur stilisti¬
schen Polyphonie bei: Der elaborierte Briefstil des späten 19.
Jahrhunderts steht in deutlichem Gegensatz zum Duktus der
Erzählerin, die sich einer zeitgemäßen Sprache, subtil, aber nicht
überschwänglich und voll feiner Ironie, bedient. Damit entsteht
ein beeindruckendes Geflecht von stilistisch unterschiedlich mar¬
kierten Stimmen und Positionen und wird zum polyphonen Text
im Sinne Michail Bachtins.
Schließlich beinhaltet dieser Roman auch ein kleines Lehrstück
zur österreichischen Geschichte, so wie auch manche andere Texte
von Claudia Erdheim. Die politische Geschichte des 19. Jahrhun¬
derts bleibt dabei immer Hintergrund der Familiengeschichte, sie
wird nie direkt abgehandelt, ist aber dennoch nicht zu überschen.
Es ist beeindruckend, wie die Ereignisse von 1848 aus der Pers¬
pektive der Protagonisten wahrgenommen werden, wie aus der
Begeisterung über die neugewonnene Freiheit der Ekel vor einer
„blutigen Scheußlichkeit“ geworden ist. Österreichische militäri¬
sche Niederlagen wie die von 1866 eignen sich bestens, um dem
Mitgefühl der Protagonisten mit dem eigenen Land Ausdruck
zu geben, und Feierlichkeiten wie der große, von Makart deko¬
rierte Umzug anlässlich der Silbernen Hochzeit des Kaiserpaars
(1879) lassen sich bestens in die Familiengeschichte integrieren,
sie werden auch zum Familienfest. Antijüdische Parolen und
Ausschreitungen gegen Ende des Jahrhunderts weisen auf die
Kehrseite dieser österreichischen gesellschaftlichen Wirklichkeit
hin: dass spätestens dann, wenn der Kaiser nicht mehr ist, die
politische Geschichte sich gegen die Geschichte der jüdischen
Familie wenden wird. Aber davon ist in diesem Roman nicht
mehr die Rede — was dieser verhängnisvolle Einbruch der Historie
in die Geschichte einer jüdischen Familie bedeutet, wissen wir ja
schon aus der Lektüre des zuvor besprochenen Buchs.
Ein Wort noch zum Buchumschlag: Auf der Innenseite des
vorderen wie auch des hinteren Buchdeckels zeigt dasselbe Foto
drei Frauen, die Protagonistinnen in fortgeschrittenem Alter, beim
Tarock: wohl ein Plädoyer für die Privatsphäre und ein Zeichen der
Gemeinsamkeit bei aller Verschiedenheit über die Jahre hinweg.
Ich freue mich, dass die Entscheidung der Jury über die Vergabe
des Theodor Kramer-Preises 2019 auf Claudia Erdheim gefallen
ist und darf Ihnen, Frau Dr. Erdheim, dazu auf das Herzlichste
gratulieren!
Alois Woldan ist Professor für Slawische Literaturen an der Univer¬
sität Wien, wo er vor allem im Bereich der polnischen, ukrainischen
und russischen Literatur lehrt. Seine Forschungsinteressen liegen auf
dem Gebiet der innerslawischen Komparatistik (polnisch-ukrainische,
polnisch-russische Beziehungen und Analogien) sowie der Galizien¬
literatur (Wechselbeziehungen zwischen polnischen, ukrainischen,
deutschen und jüdischen Autoren bzw. Texten). Publikationen: Der
Österreich-Mythos in der polnischen Literatur (1996); Europa Erlesen:
Lemberg (2008); Poglosy. Aspekty twörczosci Ewy Lipskiej (201 1);
Beiträge zu einer Galizienliteratur (2015).
Laudatio auf Martin Pollack, gehalten am 17. Oktober 2019 im
Psychosozialen Zentrum ESRA, Wien
Zuerst natürlich herzliche Gratulation zu diesem Preis, der sich
ja zu einer ganzen Serie anderer Auszeichnungen und Ehrungen
in den letzten Jahren gesellt, die ich jetzt hier nicht aufzählen
möchte oder gar kann.
Vierzig Jahre haben sich unsere Wege nur manchmal, aber auch
durchaus nicht selten gekreuzt — und dies in der Regel ausschlie߬
lich fachlich. Wie ich jetzt feststelle, nicht ganz zufällig, haben sich
doch unsere Tätigkeiten — wenn auch ganz unterschiedlich — in
fast derselben Weise über die Jahre verlagert, neu definiert, neue
Schwerpunkte gefunden, uns aber doch immer wieder, wenn
auch nur kurz in Bezichung zueinander gesetzt. Wirklich intensiv
waren unsere Zusammentreffen, unsere Zusammenarbeit gerade
zu einer Zeit, an die man sich heute — wenn man an Dein Werk
denkt, das gerade heute im Fokus steht, und das sich mit der
verbrecherischen Vergangenheit vieler ÖsterreicherInnen ausei¬
nandersetzt, und für deren Aufarbeitung Du heute den Theodor
Kramer Preis maßgeblich erhältst - eigentlich kaum mehr erinnert
oder zur Sprache bringt. Aber dazu später.
Ich glaube so richtig als Schriftsteller oder erzählender Histori¬
ker wahrgenommen - schon allein Dich professionell zu fassen,
fällt nicht gerade leicht — habe ich Dich 2004 mit „Der Tote im
Bunker“. Ich habe damals das so lakonisch mit „Bericht über
meinen Vater“ untertitelte Buch fast wortwörtlich verschlungen.
Inzwischen ist es ja — in einige Sprachen übersetzt — wohl eines
der wichtigsten Werke der jüngeren österreichischen Literatur
geworden. Und hier möchte ich nicht verhehlen, dass ich nach
dem Lesen dieses Buches oder eigentlich schon während dessen
oft ein wenig neidisch war. Neidisch, wie Du schreiben, wie Du
eine Geschichte erzählen, den Leser mitreißen kannst.