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gerufen werden: „In nur wenigen Minuten hat man uns unserer
Kleider, Geldtaschen, Eheringe, Uhren und der letzten Reste
an Nahrungsmitteln beraubt. In diesem Lunapark des Irrsinns
werden wir von einem Posten nach dem anderen erfaßt, werden
hineingezogen in einen wahnwitzigen Reigen und lassen überall
ein Stück unserer Persönlichkeit zurück. [...] Dann stehen wir
wieder draußen, die Nacht bricht ein, wir erkennen uns selbst
nicht wieder.“ Hier, bei Bernard Aldebert, der seine Deportation
in das KZ Gusen beschreibt, wird die Nacht auch zum Moment
des Reflektierens, der unvollstandigen Selbsterkenntnis — so klingt
bereits jene zweite Bedeutung der Nacht an, die zentrales Thema
in Jean Cayrols Werk ist: die Nacht als Rückzug vom täglichen
Horror der Konzentrationslager, als Möglichkeit zur — wie es in
den „Lazarenischen Träumen“ heißt - Annäherung an die eigene
Vergangenheit, die die Zukunft garantierte.” Die Nacht ist es, in
der sich „in völliger Dunkelheit“ das „Wunder“ vollzieht, „wie in
einer dem Scheitern und der Verneinung ausgelieferten Welt die
übernatürlichen Abwehrkräfte des Menschen entstehen konnten,
sich im Verborgenen entwickelten, und wie sie in vielfachen,
schwer feststellbaren Formen weiterlebten.“” Nur in der Nacht
war der Deportierte „Herr über seinen Schlaf; die SS hatte weder
Zugriff noch Macht über diese wenigen Stunden, in denen alles
Erlebte bildlich vergegenwärtigt und zu einer übernatürlichen
Vision erhöht wurde“‘, nur die Nacht schuf Augenblicke, in
denen Vergangenheit und Zukunft aufeinandertrafen.°' Die Nacht
erscheint in diesem Bild als Erlösung vom vergangenen Tag und
der Bedrohung des nächsten Tages: „Die Nacht war qualvoll,
aber die schwersten Momente für mich waren die Augenblicke
des Erwachens. Sie verlangten von mir eine Entscheidung. Um
fünf Uhr morgens, wenn die Pfeife des Barackenältesten uns
weckte, mußte ich beschließen, jedes Mal von neuem, ob ich
kämpfen oder nachgeben sollte.“ Nur in der Nacht hörte der
unertragliche Tag auf.

Cayrols immer wieder beschriebene „Verdoppelung“ der Zeit
in jene des konzentrationären Universums und des „Ersatz¬
Universums“ einer Traum-Zeit erinnert an die psychologische
Literatur zu den nationalsozialistischen Konzentrationslagern.
Der österreichische Sozialpsychologe Bruno Bettelheim berichtete
nach seiner Flucht in die USA bereits 1943 vom rätselhaften Ver¬
halten der stets gereizten KZ-Häftlinge, die sich die furchtbarsten
Dinge gefallen ließen und gleichzeitig bei Kleinigkeiten geradezu
explodiert seien, weil sie auf „normale“ Ereignisse mit normalen
Verhaltensweisen reagiert hätten, auf „abnormale“ Situationen
allerdings mit Verhaltensweisen aus einer Art „Lagerrepertoire“.
Bettelheim nannte dieses Phänomen „Ich-Spaltung“® — neben
dem früheren Ich habe in den Konzentrationslagern ein Ich der
Extremsituationen bestanden, das aus dem Körper gedriftet sei
und von außen als Beobachter zugeschen hätte. Während die
Gefangenen in „normalen“ Situationen wie im alten Leben,
bei einer Ohrfeige oder Beschimpfung etwa, beleidigt und be¬
schämt reagiert hätten, hätten sie das bei brutalen Übergriffen
auf Mithäftlinge nicht mehr.“ Diese Beobachtung Bettelheims
deckt sich mit jener vieler anderer Überlebender, etwa Benedikt
Kautskys, der emotionale Ausbrüche als regelrecht identitätsbe¬
drohend interpretierte: „Hat schon in der Freiheit jeder Mensch
seine Steckenpferde, ohne es zu wissen, so klammert sich der
Häftling noch viel mehr an die paar armseligen Dinge, über die
er verfügen kann und an die er gewöhnt ist. Das sind für ihn
die einzigen festen Punkte, an die er Gefühle fixieren kann“.
Daher habe bereits die Versetzung an einen anderen Tisch „bei

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sonst ruhigen und vernünftigen Häftlingen die wildesten Ausfälle
hervorrufen“ können.

Es ist das Motiv der „verkehrten Welt“, das in Jean Cayrols Werk
immer wieder anklingt — „in jeder Nacht, da ist es so schön,/ an
jedem Tag, da ist es Nacht“. Cayrols Schaffen steht in diesem
Sinne in einer Linie mit dem wiederkehrenden impliziten „Ge¬
sellschaftsmodell“ der Konzentrationslager, in dem die äußere
Welt zur Karikatur pervertiert wird: „In einer abnormalen Si¬
tuation“, schrieb der Psychiater Viktor Frankl, „ist eine abnor¬
male Reaktion eben das normale Verhalten.“”’ Die Umkehrung
jeder Normalität betraf das gesamte Leben — von der kleinsten
Verhaltens-Norm bis zur generellen sozialen Schichtstruktur der
sogenannten Häftlingsgesellschaft. Es ist das Bild der „Karikatur“,
das sich wie ein Faden durch die Memoirenliteratur zieht: „Es
lohnt sich, so eine Einrichtung (z.B. ein KZ) ‚in statu nascendi‘
zu beobachten. Dies ist sozusagen die Karikatur, wenn auch eine
mörderische, unserer Gesellschaft. Alles ist da: die verschiedenen
sozialen Schichten, Prominenz, Handwerk, Kunst, Adel und, um
das alles zu bewahren, selbstverständlich Militär und Polizei — nur
alle in gestreiften Anzügen und mit der Schneise auf dem Kopf.
Und in dieser Schneisenbreite und den Anzügen spiegelt sich,
wie auch im zivilen Leben, der Unterschied. Über uns aber die
unsichtbar allgegenwärtige schicksalhafte Göttlichkeit, die SS; und
wie im Leben endet alles mit dem Tod.“”' Auch zwei von Jean
Cayrol geschätzte Autoren beschrieben die Konzentrationslager
in diesem gedanklichen Modell: Primo Levi nannte die Konzen¬
trationslager, in denen „die allgemeine Moral auf den Kopf gestellt
war“, „die verkehrte Welt des Lagers“; und Robert Antelmes
Werk, das Cayrol besonders gut kannte”, dreht sich geradezu um
Versuch und Unmöglichkeit, die Welt im Konzentrationslager
zu negieren: „Aber ihr Verhalten [der SS — d. Verf.] und unsere
Lage sind nur die Überzeichnung, die auf die Spitze getriebene
Karikatur - in der sich sicherlich niemand wiedererkennen will
noch kann - von Verhaltensweisen, von Situationen, die es in der
Welt gibt und die sogar jene alte ‚wirkliche Welt‘ sind, von der wir
träumen. “7* Ähnlich wie bei Cayrol gelingt auch bei Antelme diese
Umkehrung nicht gänzlich, sie scheitert an der Widerstandskraft
der Deportierten — denn gerade die karikaturhaft verkehrte Welt,
die im Bild der Nacht symbolisiert wird, birgt die Möglichkeit
des Widerstandes, der Verweigerung der Anpassung.” Antelme:
„Je mehr uns die SS das Menschsein abspricht, uns als Menschen
leugnet, um so größer sind unsere Chancen, als Menschen be¬
stätigt zu werden.“’°

März 2020 31