klein ein Leben ist, wenn alles bis aufdie Knochen weggeschnitten
wird. Wenn die Wohnung und die Möbel weggenommen werden
[...] und nur der Körper übrig bleibt“ (S. 133), „und das Gedränge
der Körper, die in jeder Kurve aneinandergepresst wurden“ (S. 103),
„Das Heu pikst an der Wange, im Nacken und an den Händen,
während sein Körper über Straßen befördert wird“. (S. 137) In all
diesen Szenen handelt es sich um lebende Menschen. Die Szene, in
der der Autor von seiner jüdischen Schwiegermutter Grete, genauer,
von ihrem Mann Steinar, erfahrt, dass sie als Madchen im ehemaligen
Hauptquartier von Rinnan aufgewachsen ist, wird folgendermaßen
eingeleitet: Grete steht in der Küche und legt Hähnchenkeulen in
eine feuerfeste Form. Ihr Mann Steinar steckt den Kopf zur Tür
herein und beginnt dem Autor aus heiterem Himmel von Gretes
Kindheit zu erzählen - „Gretes Hände waren voller Hühnerfett und
sie lächelte verlegen“, ihr Mann beginnt all die Grausamkeiten zu
beschreiben, dievon der Rinnanbande indem Hausbegangen wurden,
währenddessen sich Grete „mit dem Unterarm das Haar aus der Stirn
[strich], immer noch mitdem Küchenmesser in der einen Handund
dem Hühnerfett in der anderen.“ (S. 21) Auf Seite 290 unter dem
Buchstaben R werden wir über ein Foto lesen, auf das der Autor im
Zuge seiner Recherchen zu Rinnan und David Wolfsohn gestoßen
ist. Es zeigt einen von der Rinnanbande ermordeten Gefangenen
des Bandenklosters, „sein Körper [...] zusammengebunden [...] wie
man ein Hähnchen zusammenschnürt oder eine Rinderroulade.“
„Passiert“ einem das als Schriftsteller?
Von Henry Rinnan, Kollaborateur, Prahler, Folterer, Vergewaltiger
und Mörder, wird uns dessen Kindheit und Jugend nahegebracht:
Kleingewachsen sei er gewesen, aus einer armen Schuhmacherfamilie,
in der Schule gemobbt. Nicht erfahren wir, dass seine Eltern bei der
Nasjonal Samling (NS) waren. Stranger lässt uns lediglich wissen,
dass Rinnans Vater ein Kommunistenhasser war. Das scheinbar
empathische Nachgehen, was soziale Ausgrenzung miteinem Kind
machen kann, ist meines Erachtens unplausibel. Stranger lässt Rinnan
denken: „Der kleinste vonallen Jungen in seinem Alter, und bestimmt
auch derjenige, der aus der ärmsten Familie kommt, denkt er.“ (S.
30) Denkt das ein zehnjähriges Kind? Rinnan ist 1915 geboren, die
Zwanziger- und Dreißigerjahre waren auch in Norwegen Zeiten
sozialer Unruhe; selbst der Autor streut an einer Stelle ein, dass die
These, Rinnan wäre aus einer außergewöhnlich armen Familie ge¬
kommen, umstritten sei. Trotzdem: Im Buch zeichnet er ihn weiter
als Underdog. Späte, als Jugendlicher, lässt er ihn denken, „dass die
Armut daran schuld ist, dass er so ungewöhnlich klein ist.“ (S. 40)
Mädchen lassen ihn abblitzen, nur wegen der fehlenden Körpergrö¬
ße, „alle Mädchen sind so, absolut alle“. (S. 111) Nun wissen wir
also, was Rinnan dazu trieb, Rinnan zu werden. Stranger schlägt in
einem Interview zum Buch gemeinsam mit seiner Schwiegermutter
Grete Komissar den Bogen zum Attentat vom 22. Juli 2011 und
verkündet die Botschaft, dass wir allen Menschen in der Gesellschaft
einen Platz geben müssen, andernfalls entstünden einsame Wölfe.
Lässt sich der Attentäter vom 22. Juli darauf reduzieren, nicht seinen
Platz in der Gesellschaft gefunden zu haben? Breivik hat 69 Kinder
und Jugendliche ermordet, dieam Sommercamp der sozialistischen
Jugend teilnahmen. Davor schrieb er unterdem Usernamen year2083
im Neonaziforum Stormfront. Breivik fühlte sich verbunden - mit
Faschisten. Ein Blick aufdie Mitglieder der „Sonderabteilung Lola“
zeigt: Viele waren Frontkämpfer, norwegische Freiwillige für das
deutsche Heer.? Sie landeten nicht zufällig bei Rinnan.
Nur durch dieseim Buchangelegte Individualisierung, Relativierung,
Banalisierung und sogar Pornografisierung des Faschismus kann ein
deutscher Rezensent in seinem Literaturblog zu folgendem, die kon¬
kreten historischen Prozesse vollig ignorierenden Schluss kommen:
Er beschreibt einen Underdog, dem es in seiner Heimat unter Seines¬
gleichen nie gelingen würde sozial aufzusteigen. Hier kommen ihm die
Nazis gerade recht. [...] Erschreckend ist hierbei, dass klar wird, dass
genau dieser Henry Oliver Rinnan auf der richtigen Seite in Reihen des
norwegischen Widerstands gekämpft hätte, wäre er dort wertgeschätzt
worden. Eine typische Täter-Karriere*
Was erfahren wir über „den Zeitgeist“, wie es Stranger ausdrückt?
Der Autor schreibt: „Der Zeitgeist im’ Trondheim der Dreißiger¬
jahre entzieht Gerson schrittweise der [sic!] Menschlichkeit, und zu
Beginn des Kriegs wird er aus weiteren Kategorien entfernt. Er ist
kein Norweger mehr. Kein Student. Er ist kein Trondheimer mehr.“
(S. 97) Damit ist das Thema Antisemitismus und Faschismus für
Stranger erledigt. Wir erfahren nicht, dass Trondheim zu jenen
Städten gehörte, wo die Unge Hoyre, die Jugendorganisation der
konservativen Partei Hoyre, eine Kooperation mit der 1933 gegrün¬
deten norwegischen faschistischen Nasjonal Samling (NS) eingehen
wollte, aber vom Vorsitzenden Carl Joachim Hambro in den 1930ern
auf Linie gebracht wurde (in Bergen brach die Unge Hoyre um der
Freundschaft mit der NS willen mit der Parteiftihrung)’, nichts von
den NS-Sympathien der Konservativen Studentenvereinigung in
Trondheim, nichts von eben diesen Sympathien der Bauernpartei.
Was hier als „Zeitgeist“ subsumiert wird, ist später der „Krieg“.
Und so lesen wir auf Seite 75, als Gerson von der Ermordung seines
Vaters am 7. Oktober 1942 erfährt, von betretenem Schweigen von
Seiten der Kommilitonen und sehen einen sich unwohl fühlenden
Gerson vor uns, „der sich für die gemeinsame Skiwanderung be¬
dankt“ ($. 75) - mehr weiß der Autor nicht zu sagen. Wäre es nicht
interessant gewesen zu erfahren, welche SchriftstellerInnen in der
Familie Komissar gelesen wurden? Kannten sie das Gedicht von
Nordahl Grieg, das er vom noch unbesetzten Nordnorwegen am
17. Mai 1940, dem norwegischen Nationalfeiertag zur Feier der
Verfassung von 1814, im Sender Iromso vortrug? Grieg hatte das
Gedicht geschrieben, nachdem die Deutschen am 9. April 1940 in
Oslo einmarschiert waren.
Schlimmer als brennende Städte
ist Krieg, der unsichtbar wirkt,
der Schnee und Äcker und Birken
unter giftigen Schleiern verbirgt.
Denunzianten und Terror
brachten sie uns ins Haus.
Aber unsere Träume
trieben sie uns nicht aus.”
Über Grieg heißt es, dass das „ganze besetzte Norwegen diese
Sendungen [hörte]“, die erab der zweiten Jahreshälfte 1940 aus dem
Londoner Exil in BBC fortsetzte, und die nach der Konfiszierung der
Radioapparate durch die Nazis in Norwegen zu Tausenden in den
illegalen Zeitungen verbreitet wurden.‘ Nichts davon ist bei Stranger
zu lesen, und nichts vom „einzig[en] unbestreitbar großen Schrift¬
steller, den [Goebbels] auf seiner Seite hatte“, wie Robert Ferguson
in „Knut Hamsun“ über denselben schreibt (Ferguson 1990:549),
nichts vom Eintreten des norwegischen „Dichterkönigs“ Knut
Hamsun in seinen zahlreichen Zeitungsartikeln seit den Dreißiger¬
jahren für Faschismus, für die Todesstrafe, gegen Frauenrechte, nichts
von seinen Aufrufen, den Widerstand in Norwegen doch fahren zu
lassen, und seiner Diskreditierung des Parlamentspräsidenten Carl
Joachim Hambro, der die Flucht des Königs und der Regierung aus
Oslo und die Mobilmachung verkündet hatte. Hamsun nannte ihn
in einem seiner Artikel 1940 „Sohn einer Einwandererfamilie“, dem
„eine norwegische Seele [fehlt]“ (Ferguson 1990:508) — Hambro
stammte aus einer jüdischen Familie aus Dänemark, die zu Beginn
des 19. Jahrhunderts zum Christentum konvertiert war, Carl ].
Hambro wurde 1885 in Bergen geboren. Nichts erfahren wir über
die spektakuläre Flucht des Königs Haakon VII und seiner sozialde¬
mokratischen Regierung unter Staatsminister Johan Nygaardsvold