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die heute auch vor Ort hohes Ansehen genießt, dass während seiner jahrzehntelangen Dienstzeit niemals die Rede auf Geschehnisse im Krieg gekommen war. — Viele Leute waren aus der Umgebung von Aichach gekommen. Sie erzählten von Vorfahren, die es ebenfalls erwischt hatte in der NS-Zeit. So eine Frau, die als Vertretung des Bürgermeisters der Stadt anwesend war. Aus Augsburg war Frau Metzger vom dortigen Frauenzentrum da - sie und ihren Mann kannten wir bereits von einer gemeinsamen Teilnahme an einer Gedenkwanderung über die Almen in Goldegg.”” Ein Forscher über radikal-fundamentalistische Strömungen in der katholischen Kirche meldete sich zu Wort, ebenso der Historiker Merkl, der mir ein Buch schenkte mit seinem Beitrag über Frauenschicksale in der Strafanstalt.”? Der Leiter des Stadtarchivs von Aichach, Herr Christoph Lang, war da, erließ mir später per Mail Fotos von historischen Innenansichten der NS-Strafanstalt Aichach zukommen. ** Er berät Hobby-HistorikerInnen in seinem Umfeld, die sich an ihn wenden, wenn sie bei Familienforschungen nicht weiterwissen. „Und was macht das mit der Familie?“, ist eine gern gestellte Frage bei solchen Veranstaltungen. „Aufruhr, Freude, Rückzieher, Distanzierungen, Erleichterung-insgesamt ein Gesprächsklima. Etwas das es vorher so nicht gegeben hat.“ - Ein Journalist: „Darfman das denn sagen, dass es nach dem Krieg in der Justizanstalt vorerst viele Jahre in gleicher Manier mit demselben Personal weitergegangen ist?“ — „Ja, darfman. Sollte man. Es braucht eben auch die psychologische Befreiung in den Gehirnen und die personelle.“ Anmerkungen 1 Mit Maria Prieler-Woldan, dem Verleger und Journalisten Martin KranzlGreinecker und seiner Frau Johanna. 2 Boris Vian: Der Deserteur. Chansons, Satiren und Erzählungen. Mit einem biographischen Portrait von Klaus Volker. Berlin 2001 (1992), S. 19. 3 Ebda., aus dem Gedicht „Die fröhlichen Schlächter“, S. 28. 4 https://arolsen-archives.org 5 Siehe auch den Beitrag: Maria Etzer (1890 — 1960). Die Lebenssorge um ‚Fremdvölkische‘ brachte Gefängnis und Verfemung. In: Walter Thaler: Pongauer! Lebens- und Leidenswege. 60 Portraits aus der Provinz. Wien 2019. 6 AntifaschistInnen legen seit vielen Jahren zu Allerheiligen beim Kriegerdenkmal am Salzburger Kommunalfriedhof einen Kranz nieder. „Wir gedenken der Deserteure und Widerstandskämpfer ermordet von der SS“, stand auch heuer auf der Schleife. Wieso ist es noch immer nicht möglich der gefallenen Soldaten und der Deserteure sowie der WiderstandskämpferInnen gemeinsam zu gedenken? Sind sie nicht — meist in Opposition zueinander im selben Krieg draufgegangen? Vielen ist schon so ein Kranz, der an die andere Seite erinnert, ein Dorn im Auge: So wurde der Kranz auch heuer wieder zerstört auf den Boden geworfen. Vor Jahren sei einmal eine Schleife abgeschnitten worden und einmal der Kranz in den Müll geworfen worden. „Jetzt beginnt das wieder, weil das Klima anders ist“. (vgl. Stefanie Ruep: Kranz für Widerstandskämpfer in Salzburg angezündet, in: „Der Standard“ vom 02.11.2019, https://www. derstandard.at/story/2000110600827/kranz-fuer-widerstandskaempfer-insalzburg-angezuendet) 7 Ihrem Rat verdankte meine Tochter Hannah einen entscheidenden Hinweis, der ihr 1997-1998 ermöglichte, als erstes österreichisches Kind im Rahmen der üblichen Auslandsaufenthalte für SchülerInnen die 7. Klasse Gymnasium im Techon Hadash in Tel Aviv zu absolvieren. 8 Maria Prieler-Woldan: Das Selbstverständliche tun. Die Salzburger Bäuerin Maria Etzer und ihr verbotener Einsatz für Fremde im Nationalsozialismus. Mit einem Nachwort von Brigitte Menne. Innsbruck-Wien-Bozen 2018. ISBN: 3706556642. Aufgrund dieser Publikation konnte im September 2018 auf Antrag von Brigitte Menne ihre vollständige, persönliche Rehabilitierung durch das Landesgericht Wien (Friedrich Forsthuber) erreicht werden. 9 Martin Kranzl-Greinecker erzahlte mir auf der Fahrt, dass er bereits mitsiebzehn aufden Namen Aichach gestoßen ist, weil ihm seineältere Schwester schon damals das Buch von Margarethe Schütte-Lihotzky geschenkt hat: „Erinnerungen aus 62 _ ZWISCHENWELT dem Widerstand 1938-1945. Berlin 1985“. —Spater hat er selbst als Erster über „Die Kinder von Etzelsdorf. Notizen über ein ‚Fremdvölkisches Kinderheim“ geschrieben. Es handelt vom Schicksal der Kinder von „fremdvölkischen“ (!) Zwangsarbeiterinnen, die im Schloss Etzelsdorf in Pichl bei Wels, wo er auch wohnt, zwangsuntergebracht waren und da - wie die Fliegen - starben... Es ist ein Beispiel verdienter lokaler Spurensuche. Er nannte mir gegenüber den bezeichnenden Ausdruck „Die Kinder sind gelinzt worden“, das heißt, sie wurden Richtung Linz nach Hartheim gebracht, wo dann für sie Endstation war: Auf den jeweiligen Bussen ist gestanden „Kindertransporte aller Art“. Im Euthanasieprogramm hat kein Mensch jemals am Ankunftsort übernachtet: Menschen wurden sofort nach ihrer Einlieferung umgebracht. (M. K.-G.) 10 Das WAA-Baugelände wurde danach mit erheblichen Steuermitteln zum Gewerbegebiet „Innovationspark Wackersdorf“ umgestaltet. 11 Siehe Fußnote 1. 12 Die Anstalt wurde 1904 bis 1908 errichtet und ab Januar 1909 als Haftanstalt fiir weibliche katholische Strafgefangene in Betrieb genommen. In der NS-Zeit waren unter den inhaftierten Frauen zahlreiche politische Gefangene. Auch kam esin mindestens 110 Fällen zu Zwangssterilisationen. 362 Frauen wurden von Anfang 1943 an von Aichach aus in das KZ Auschwitz-Birkenau deportiert, wo seinerzeit das Fleckfieber wütete. Schon deshalb war die Mortalität sehr hoch. Keine der Frauen kehrte von dort zurück. Über ihr Schicksal wurde auch nach 1945 nichts Näheres bekannt. Die Akten der Aichacher Anstalt aus dieser und früherer Zeit werden im Bayerischen Staatsarchiv in München aufbewahrt. Sie belegen wachsende Ausgrenzung und Repression schon während der Weimarer Republik und zahlreiche Ermordungen nach 1933. (Wikipedia) 13 Margarethe Schütte-Lihotzky war eineberühmte österreichische Architektin, sie war als „Politische“ im gleichen Trakt inhaftiert wie die als „Bettpolitische“ unberühmte Maria Etzer. Siehe: http://www.schuette-lihotzky.at 14 https://www.aichach.de/media/custom/2653_1935_1.PDF?1549886546: »---Aufgrund dieser Uberbelegung gab es viele Kranke, weshalb der Turnsaal sowie 10 Zellen als Spital betrieben wurden. ... Einige Gefangene der Anstalt wurden in das Konzentrationslager Dachau deportiert sowie 362 Häftlinge von 1943 bis 1945 nach Auschwitz. Am 30. April wurde das Gefängnis Aichach von amerikanischen Truppen befreit, die die Strafanstalt für ein Konzentrationslager hielten und alle Gefangenen bis auf 139 Personen frei ließen. ... Im Laufe von Sanierungsarbeiten wurde die Wehrungsmauer 1980 sowie die Strafanstalt selbst 1989 erweitert. Da die Kinderbetreuung für inhaftierte Mütter nahezu unmöglich war, wurde 1992 ein Neubau mit Mutter-Kind-Abteilung und Kindertagesstätte errichtet. ... Heute ist die Justizvollzugsanstalt mit einer Belegungsfähigkeit von 563 Haftplätzen eine der größten und modernsten Frauenstrafanstalten der Bundesrepublik Deutschland.“ 15 Heute nehmen an Sonn- und Feiertagen zwischen 60-120 Häftlinge an den Gottesdiensten teil. 16 447 Häftlinge finden in der Anstaltskirche Platz. 17 „ein Silberring am Finger; 1 schw. Mantel, 1 schw. Weste, 1 kl. Bluse, 1 grau. Rock, 2 Kopftücher, 1 P schw. Strümpfe, 1 UP. schw. Schuhe, 1 br. Hose, 1 bunt. Jäckchen, 1 weiß. Hemd, 2 Taschentücher, 1 Geldbörse, 1 Gebetbuch, lp. Strumpfgummi, 1 Brille, 1 Kamm, 1 Zahnbürste.“ Siehe Fußnote 8, S. 100. 18 Auf dem Hochzeitsfoto meiner Eltern (1946) sitzt sie als einzige nicht verwandte Person nah hinter meiner Großmutter, beide schauen sehr ernst. 19 Das Frauenforum Aichach-Friedberg bereitet seit vier Jahren ein Symposion vor, das in Aichach stattfinden und die „vergessenen Frauen der NS-Frauenstrafanstalt“ zum Thema haben wird. 20 Die beiden anwesenden Journalistinnen haben später ausführlich in ihren Zeitungen über diesen Vortrags-Abend am 18. Oktober 2019 berichtet. 21 Ich erwähne hier nur meinen Neffen zweiten Grades, Hans Etzer, der mich bei einer Buchpräsentation in Salzburg gebeten hat, ihm ein Stück Wollfaden abzuschneiden vom Strähn unserer gemeinsamen Vorfahrin. Es sollte ein Mitbringsel sein für seine Frau, die krankheitshalber daheim bleiben musste. Ich habe diesen sympathischen Verwandten aus Tirol erst durch die Erinnerungsarbeit kennengelernt. 22 Solche Gedenkwanderungen sind sehr angenehm und dazu noch lehrreich, siehe https://www..sn.at/wiki/Verein_Freunde_des_Deserteurdenkmals_in Gold egg 23 Franz Josef Merkl: An den Rändern der ‚Volksgemeinschaft‘—Frauenschicksale in der Strafanstalt Aichach 1933-1945, in: Altbayern in Schwaben. Jahrbuch fiir Geschichte und Kultur 2018, S 101-164. 24 Er schickte mir per Mail auch Scans aus dem Buch von Marie-José Masconi: La longue nuit de Lucie. Une résistante et ses compagnes dans les bagnes nazis. Strasbourg 2019. Frau Masconi schildert darin auch ihre Eindrücke vom