eine Befreiung aus der sozialen Isolation gewesen sei, da er als
Hilfsarbeiter auf der Baustelle plötzlich Solidarität unter seinen
Arbeitskollegen erfuhr. Um diese Zeit wurde er auch eingeladen,
der Jugendgruppe der Pfarre St. Nepomuk beizutreten. Trotz
seines antiklerikalen Elternhauses nahm Gerhard Baader das An¬
gebot an und fand dort einen Ort, wo er als Jugendlicher wie alle
anderen angenommen wurde. Diese Akzeptanz hatte allerdings
klare Grenzen. Als er sich während der Vorbereitungen zu einem
weihnachtlichen Krippenspiel in eine der Mitwirkenden verliebte,
verboten die Eltern des Mädchens jeden weiteren Kontakt.
In der Zeit der Zwangsarbeit wurde auch sein rebellisches Wesen
geweckt, da er sich häufig über die für ihn geltenden Restriktionen
hinwegsetzte und sich damit in Schwierigkeiten brachte, da bei
Ausweiskontrollen in seinen Papieren „Mischling ersten Grades“
vermerkt war. Seinen Erzählungen nach verbrachte Gerhard Baader
zumindest eine Nacht im Polizeigefangenenhaus auf der Rossau¬
er Lände, da er beispielsweise mit seinen Arbeitskollegen nicht
jugendfreie Filme im Kino besuchte, was für ihn als „Mischling“
schwerwiegendere Konsequenzen hatte.
In den letzten Kriegsjahren wurde die Familie Baader in ihrem
Wohnhaus von Leopoldine Frassl, der Tochter der Hausmeiste¬
rin, observiert, die vom Stiegenhaus aus das Küchenfenster der
Baaders beobachtete. Seine Mutter Cäcilia, die zu einer gesund¬
heitsgefährdeten Zwangsarbeit verpflichtet war und gefährliche
Chemikalien abfüllen musste, konnte von ihrer Vorarbeiterin
die Genehmigung erwirken, nur halbtags zu arbeiten. Zu Hause
musste sie allerdings bis zum Abend die Küche meiden, um einer
möglichen Denunziation durch Frassl zu entgehen.
Der Tod der mütterlichen Großmutter, die 1942 noch — wie
Gerhard immer betonte - in „bürgerlicher Würde“ in Wien ver¬
starb, bedeutete eine weitere Zäsur für ihn: Beim Begräbnis wurde
er aufgrund der durch die Deportationen bereits dezimierten
männlichen Teilnehmer zum ersten Mal zum Minjan gezählt.
Im Herbst 1944 wurden Gerhard Baader und sein Vater als
„Wehrunwürdige“ zur Zwangsarbeit für die Organisation Todt
(OT) einberufen. Während sein Vater an seinem Zwangsarbeits¬
einsatz am Südostwall durch die dort erfahrenen Erniedrigungen
zerbrach, nützte Gerhard Baader jede Gelegenheit, Befehle zu
umgehen, und schlich sich beispielsweise mit anderen Jugend¬
lichen nachts heimlich aus dem neben dem Stadion gelegenen
OT Lager in den Prater.
Nach der Befreiung besuchte er Maturakurse für rassisch und
politisch Verfolgte und trat der damaligen Sozialistischen (heute
Sozialdemokratischen) Partei bei — eine Mitgliedschaft, die für
Veraltet oder ugs.- Von Zeit zu Zeit gefällt sich die hochlöbliche
Duden-Redaktion darin, Wörter aus dem Verkehr zu ziehen.
Schön wäre es, hielte man für veraltet das eine oder andere Wort,
das abgenutzt ist, nehmen wir z.B. „hochkarätig“. Da könnte
man wünschen: Zurück in die Werkstatt! Sinnhaftigkeit und
Bedeutungsfeld müssen dringend repariert werden! Oder „Tief¬
gang“ — den sollte man den Schiffen lassen! Indes geht man gegen
Wörter vor, die seltener gebraucht werden, und liefert sie an den
Lektor. „Gebresthaft“ steht schon auf der Liste, „wohlgestalt“
auch, während „ungestalt“, das Pendant im Gegensatzpaar, noch
unter „gehoben“ des vorhersehbaren Schicksals harrt. Wie in
ihn bis ins hohe Alter bedeutend war. Nach der Matura im Jahre
1948 studierte Gerhard Baader Sprachwissenschaften, klassische
Philologie und Geschichte an der Universität Wien. In dieser
Zeit war er im Verband der Sozialistischen Studenten aktiv und
schreckte als Antifaschist auch nicht vor Prügeleien mit rechten
Studienkollegen zurück.
Nach seiner Promotion übersiedelte er 1954 nach München, wo
eram Mittellateinischen Wörterbuch der Bayrischen Akademie der
Wissenschaften mit dem Schwerpunkt Wissenschaftsgeschichte
mitarbeitete. Ab 1967 war Gerhard Baader dann am Institut für
Geschichte der Medizin an der Freien Universität Berlin tätig, wo
er sich 1979 habilitierte und zur Geschichte der Euthanasie und
Medizin im Nationalsozialismus forschte. Seine Publikationen und
der 1982 von ihm gegründete „Arbeitskreis für die Erforschung
der Geschichte der NS-Euthanasie und Zwangssterilisation“ gaben
im deutschen und österreichischen Kontext einen entscheidenden
Anstoß für die Auseinandersetzung mit der Rolle der Medizin
im Nationalsozialismus. Seine Lehrtätigkeit inspirierte zahlreiche
seiner Studierenden, sich diesem Thema zu widmen. Nach seiner
Pensionierung 1993 war Gerhard Baader 10 Jahre als Visiting
Professor an der Hebrew University in Jerusalem tätig, bevor er
wieder nach Berlin zurückkehrte, wo er bis zum Schluss an der
Charite lehrte.
Neben der NS-Medizin, die in vielerlei Hinsicht sein Lebens¬
thema wurde, verfolgte Gerhard Baader vielseitige wissenschaftliche
Interessen und war u.a. Mitglied der Österreichischen Gesellschaft
für Exilforschung. Darüber hinaus war er Stammgast auf zahl¬
reichen zeithistorischen Konferenzen und ließ sich trotz seiner
zunehmend eingeschränkten Mobilität als ehemaliger passionierter
Bergsteiger auch nicht davon abhalten, mehrmals im Jahr für
wissenschaftliche Kongresse nach Wien zu kommen.
Neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit behielt Gerhard Baa¬
der aber auch immer einen wachen Blick für gesellschaftspolitische
Themen und engagierte sich beispielsweise als Deutschlehrer für
syrische Flüchtlinge. Darüber hinaus war er Mitglied im Verein
„Child Survivors“ und Vorstandsmitglied der Oranienburger Sy¬
nagoge. 2018 wurde ihm anlässlich seines 90. Geburtstages das
deutsche Bundesverdienstkreuz verliehen.
Gerhard Baader blieb bis zuletzt unermüdlich aktiv und kündigte
im letzten gemeinsamen Telefongespräch noch seinen nächsten,
für seinen Geburtstag geplanten Wienbesuch an. Er verstarb über¬
raschend am 14. Juni 2020 in Berlin. Sein scharfsinniger Geist,
seine Freundschaft und sein vielseitiges Engagement werden fehlen.
genannten Fällen werden pflichteifrige Lektorlnnen auch Wörter,
die einmal als urngangssprachlich gebrandmarkt sind, kaum mehr
durchschlüpfen lassen, selbst wenn sie das selber bedauern. „Selber“
ist angeblich besonders umgangssprachlich, da hilft dem Wort kein
Bertolt Brecht mit seinem „Reden erst die Völker selber/ werden
sie schnell einig sein“. Und selbstredend auch kein Jura Soyfer,
der im „Dachaulied“ nahelegt: „Und im eignen Schweiße werde/
Selber du zu Stahl und Stein.“ Es ist eine Differenz zwischen selbst
und selber. Je raffinierter unsere Geräte werden, desto weniger
Differenzierung gestatten wir unserer Sprache?