Entlang der Hauptachse fand das „urbane“ Leben statt. Hier lebten
die Jungen, die Alleinstehenden, die Händler. Musik dröhnte
aus Mobiltelefonen, kleine Gruppen standen beisammen und
schacherten, Friseure hatten eröffnet, kleine Shops waren ge¬
gründet worden, der Straßenhandel florierte.
Es gab Lebensmittel, aber auch Zigaretten, Modeartikel, Elektro¬
geräte, die auflangen Fußmärschen aus dem nächsten Ort besorgt
worden waren. Wer konnte, versuchte sich durchzutricksen. Der
Schwarzmarkt blühte, es gab Reibereien und Kleinkriminalität.
Immer wieder kam es auch zu Übergriffen auf Frauen, viele
trauten sich deshalb abends nicht mehr alleine auf die Toilette.
Bestimmte Gegenden im Lager waren zu meiden — auch als
Beobachterin konnte ich die unterschiedlichen Stimmungen
deutlich spüren.
Es drang nun auch verstärkt die organisierte Kriminalität ins
Lager. Drogenhandel kam auf, Warnungen vor Menschenhänd¬
lern hingen an den Zelten.
Was uns dennoch immer wieder beeindruckt hat, war die offene
und herzliche Stimmung im Lager. Wir wurden immer wieder
angesprochen und eingeladen, auch wenn wir keine Hilfsgiiter
verteilten. Längere Gespräche ergaben sich hauptsächlich mit
den Menschen, die über eine höhere Schulbildung verfügten
und deshalb gutes Englisch sprachen — Menschen, die wir ohne
weiteres auch in Wien in unserem normalen Kontext kennen¬
lernen hätten können.
Einmal saßen wir mit einer Gruppe junger irakischer Männer am
Feuer, ein Agrartechniker, ein Informatiker und ein Installateur.
Wir sprachen über Musik und kamen auf Pink Floyd.
„We arrived on the dark side of Europe“, sagt einer zu mir. Mir
kamen die Tränen, und das lag nicht nur am beißenden Rauch
des Lagerfeuers, der mir ins Gesicht stieg.
Ab und zu versuchte es jemand beim Pizzaservice, 40 km ent¬
fernt. Schließlich gab es hier auch wohlhabende Menschen, die
in Erinnerung an ihr voriges Leben endlich wieder einmal ihr
Essen selbst aussuchen wollten.
Im Lager Idomeni lebten die Ärmsten der Armen mit den vormals
Reichen Zeltwand an Zeltwand. Geld allein ist eben nicht mehr
viel wert, wenn man keine Bürgerrechte besitzt. Und Ersparnisse
sind schnell verloren, gestohlen oder ausgegeben.
Viele Nationen trafen aufeinander, grenzten sich voneinander
ab, versuchten sich aus dem Weg zu gehen und kamen doch
nicht aneinander vorbei.
Religiöse und Laizisten, Konservative und Oppositionelle —
die Tausenden von Menschen, die hier auf engem Raum zu¬
sammenlebten, hatten kaum etwas gemeinsam, außer, dass sie
Flüchtlinge waren.
Immer wieder gab es kleinere Auseinandersetzungen und größere
Zusammenstöße, doch in Anbetracht der Umstände war die
Stimmung meist friedlich und entspannt. Es war der Geduld und
Freundlichkeit der Mehrheit der Menschen dort zu verdanken,
dass es zumindest zwischenmenschlich keine Hölle wurde.
Die Situation war wie ein zynisches soziales Experiment, und
die Menschen haben sich darin fast überwältigend gut geschlagen.
Kaum jemand wollte freiwillig gehen, denn die Alternativen
waren unklar, und die Hoffnung, dass die Grenze doch noch
aufgehen würde, war unverändert.
Am 24. Mai zerbrach diese Hoffnung. Idomeni wurde endgültig
Christine Schörkhuber ist als Medien- und Klangkünstlerin, Vi¬
deomacherin und Musikerin tätig und arbeitet primär mit Klang,
Elektronik und Rauminstallation. Als Künstlerin beschäftigt sie sich
stark mit der Dynamik von Beziehungen und Ordnungssystemen
auf sozialer, physikalischer und technologischer Ebene.
Neben ihrer künstlerischen Tätigkeit ist sie bei vielen Initiativen
als Aktivistin und Freiwillige tätig (Asyl in Not, Röszke, Train of
Hope, Volkshilfe Nordgriechenlandhilfe).
Sie ist ausgebildete Mediatorin und Konfliktmanagerin. Ausserdem
aktiv als Organisatorin und Kuratorin (Klangmanifeste, Symposion
Lindabrunn). Kulturpolitische Radiobeiträge (Bewegungsmelder
Kultur) und Publikationen.
Rückkehr aus dem Exil und Salzburger Festspiele
„Gewiss, man kann die Reinhardts und Toscaninis nicht aus dem
Ärmel schütteln. Aber man kann ihre Tradition wahren und aus
solcher Wahlheimat der Kunstsehnsucht aller Nationalitäten ein
weltpolitisches Faktum machen [...]“', schrieb Ludwig Ullmann
1944 in seinem Beitrag „Salzburg, ein Zukunftstraum“ für die
Exilzeitschrift Austro American Tribune. Hierin preist er die Grün¬
derväter und frühen Protagonisten der Salzburger Festspiele und
spricht vom „Symbol der inneren Grösse des kleinen Österreich“
sowie der „Übersetzung des alten österreichischen Völkerstaats ins
Geistige“. Seine Idealisierung mündet schließlich in Hoffnung
und Forderung: „Das österreichische Existenzrecht beruht auf der
Tradition seiner kulturellen Besonderheit. Salzburg bewies und
soll wieder beweisen, dass es nicht in der Ostmark eines Eroberer¬
und Hasser-Volkes liegt, sondern im imperium democraticum
des Geistes.“? Der Wiener Journalist und Theaterkritiker Ludwig
Ullmann, 1938 vor den Nationalsozialisten geflohen, nach einer
Flucht durch mehrere Länder zunächst im Exil in Frankreich, ab
1942 in den USA, kehrte nach 1945 nicht mehr nach Österreich