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Wie alle französischen Soldaten bekamen wir zu Mittag einen
Viertelliter Wein. „Pas de vin, pas d’armee Frangaise“, kein Wein,
keine französische Armee. So unsympathisch konnte daher einer
gar nicht sein, daß man ihm sein Vierterl verweigerte. Schon um
zu demonstrieren, daß wir im Prinzip der französischen Armee
unterstünden. Ansonsten gab es für zwischendurch eine Kantine
der YMCA (Young Men’s Christian Association)”. Wenn die
Kantine voll war, unterbrach der Kantinar die Bedienung und
hielt eine kleine Predigt. Waren die wirklichen englischen Sol¬
daten gut aufgelegt, sangen sie irgendwelche Schnulzen. Es gab
sogar schon eine Liebesschnulze für die Engländer in Frankreich:
„Somewhere in France with you“’®, irgendwo in Frankreich mit
Dir. Man durfte ja nicht den Ort nennen, wo man stationiert
war, das könnte ja der Feind erfahren.

Wir selbst, vor allem die Politischen, hatten trotz des militäri¬
schen Theaters oder deswegen auch ein flaues Gefühl im Magen
wegen unserer „gspassigen“’’ Situation. Ein tüchtiger „politischer“
Deutscher hatte in wenigen Tagen ein Lied über uns prestataires
in Wort und Ton zurechtgebastelt und virtuos mit Akkordeonbe¬
gleitung vorgetragen, das von uns mit großem Beifall zur Hymne
erhoben wurde. Der Refrain ging ungefähr so: „Wir sind ein ab¬
gebuchtes Heer und jeder gute prestataire trat ungeahnter Weise,
man sagt es uns ganz leise, in Scheiße.“

Nun, zum Lob unseres Majors über unser prachtvolles Marsch¬
Eins-Klopfen zurückzukommen: Wir bekamen als Belohnung
einen 14tägigen Urlaub, wenn wir eine Adresse angeben konnten.

Ich hatte ein bekanntes Ehepaar namens Lore und Max”? in
Paris. Sie war eine Schulkollegin und Freundin meiner Cousine.
Er war zwar Wiener, aber rumänischer Staatsbürger und konnte
daher unbehelligt in Paris wohnen. Nach langer Zeit fühlte ich
mich richtig wohl, als freier Mensch Anfang Mai bei herrlichem
Wetter in Paris herumzuspazieren, das war schon was. Ich unter¬
hielt mich mit meinem Bekannten über alles, was geschehen war,
seit ich Paris verlassen hatte und klarerweise über die Lage. Die
deutsche Wehrmacht war ja gerade in Norwegen eingefallen”.
Es sah alles nicht sehr rosig aus. Bei den Äußerungen meines
Bekannten hatte ich immer mehr den Eindruck, daß er direkt
im Dienste der Russen stünde. Ich fragte ihn natürlich nicht
danach, das Fragen hatte man sich in der Illegalität abgewöhnt.
Je weniger man in dieser Hinsicht wußte, desto besser war es.
Jedenfalls war mir daher seine Meinung interessant. Er meinte
nämlich, es würde zu einem deutsch-russischen Krieg kommen,
Stalin wollte nur Zeit gewinnen.

Nun, zwei, drei Tage nach diesem „theoretischen“ Gespräch kam
die rauhe Wirklichkeit. Am 10. Mai verkündeten die Schlagzeilen
der Zeitungen: „Deutsche Wehrmacht fällt in Holland, Belgien,
Frankreich ein.“ Mein erster Gedanke: Aus ist es mit dem Urlaub.
So ist eben der Mensch. Meine weiteren Gedanken waren aber
nicht gerade von Optimismus geprägt, bei dieser Situation in
Frankreich. Ich kehrte also sofort ins Lager zurück. Es dauerte nicht
lange, da sahen wir schon die ersten Flüchtlinge in ihren Autos.
Aufdie Dächer hatten sie Decken und Matratzen gebunden, um
sich gegen den Beschuß durch deutsche Flugzeuge zu schützen.
Nicht lange danach wurden wir in den allgemeinen Rückzug
eingeschaltet. Wir schlugen unsere Zelte, im wahrsten Sinne des
Wortes, bei Nantes an der Westküste südlich der Bretagne auf.
Dort mußten wir sogar arbeiten. Man lief uns Splittergruben®
ausheben. Wozu die gut waren? Ich hatte fast den Eindruck, das
ware wie die Therapie bei einem hoffnungslosen Fall.

34 — ZWISCHENWELT

Nicht einmal der beste Galgenhumor konnte unsere Lage
stützen. Holland und Belgien hatten bereits kapituliert*', die
Engländer führten die bekanntgewordene Abwehrschlacht bei
Dünkirchen® durch, um ihre Truppen über den Ärmelkanal
nach Hause zu bringen, und schon ging das Gerücht um, daß
„unsere“ Engländer bald Frankreich verlassen würden. Jetzt wurde
für uns die Sache kritischer. Der Zusammenbruch der französi¬
schen Armee war offensichtlich, und im „Windschatten“ dieses
Zusammenbruchs wurden die Herrschaften sichtbar, die sich
national nannten und die Zusammenarbeit mit Hitlerdeutsch¬
land vorbereiteten. Wir forderten: „Entweder Bewaffnung oder
freier Abzug.“ Wir hatten keine Lust, von den Engländern an die
Franzosen und von den Franzosen an die Deutschen ausgeliefert
zu werden. Um diese dramatische Situation zu beschreiben, habe
ich ein richtiges Zeitdokument zur Hand. Als in den Wirren des
Zusammenbruchs die briefliche Verbindung zu meiner Familie in
England zeitweilig abbrach, wandte sich meine besorgte Mutter
an das britische Kriegsministerium mit der Frage, was mit mir
bzw. mit uns geschehen sei. Ich glaube, es ist das Beste, wenn ich
das Antwortschreiben, das meine Eltern zum Glück aufbewahrt
haben, vollständig wiedergebe:

To Mrs. S. Friedler

301, Shenley Fields Road
Sellyoak

Birmingham, 29

From Major W. M. Robson

O.C. No. 60 Company AM.PC.
Ravensmede

Alnmout Road,

Alnwick

Sehr geehrte Frau Friedler

Das Kriegsministerium informierte mich, da es Anfrage von Ihnen
erhalten hat, betreffend Nr. 5254 J. Friedler, der ein Mitglied der
701. Fremdarbeiter-Kompanie in Frankreich, die unter meinem
Befehl stand, war.

Diese Kompanie bestand aus Männern, welche sich freiwillig zum
Dienst bei den französischen Prestataires gemeldet hatten, die aus
Männern feindlicher Staatsbürgerschaft bestanden, die gezeigt hatten,
daß ihre Sympathien den Franzosen und uns selbst im Kampf gegen
den Hitlerismus gehörten.

Sie waren alle freiwillig zum Dienst bei den Prestataires, die uns
von den französischen Behörden geliehen wurden.

Alle Regeln betreffend ihr Engagement, Sold, Ausmaß der Rationen,
Bewegungsfreiheit usw. wurden von den französischen Behörden fest¬
gesetzt und wir hatten nicht das Recht, sie zu ändern. Ich glaube,
die Franzosen wollten nicht, daß wir sie besser behandelten als sie
selbst die Prestataires, die bei der französischen Armee dienten, da
sie erklärten, daß dies Unzufriedenheit in ihrer eigenen Armee ver¬
ursachen würde.

Ich versuchte dennoch, die Bedingungen, unter denen sie arbeiteten,
so angenehm wie möglich für sie zu gestalten.

Sie arbeiteten hart und freudig und waren sehr dankbar für jede
Kleinigkeit, die ich für sie tun konnte. Sie wünschten alle sehr, von
den französischen Vorgesetzten wegzukommen, und wenn uns Zeit
geblieben wäre, wäre es vielleicht möglich gewesen, sie in irgend¬
einer Form in unsere Armee einzugliedern. Ich hätte nichts lieber
gewünscht als dies.