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Leben auf Abruf zu gründen. Nun wurden wir beide sozusagen
an die Front der Agitation unter den Angehörigen der deutschen
Wehrmacht geschickt. Sofort nach der Besetzung Südfrankreichs
produzierte unsere Organisation unzählige Flugblätter für die Sol¬
daten und schließlich erschien auch eine Zeitung, „Der Soldat am
Mittelmeer“'” als Antwort auf das Wehrmachtspropagandaorgan
„Wacht am Mittelmeer“.'®° Anni gehörte nun zu den Gruppen,
die die Aufgabe hatten, dieses unser Propagandamaterial an den
Mann zu bringen. Streuen der Druckschriften, wo viele Soldaten
beisammen waren, das Material über die Kasernenmauern werfen
und Kontakt zu finden zu einzelnen, wenn möglich österreichi¬
schen, Soldaten. Und mir sagte man eines Tages: „Du gehst zum
Flugplatz von Lyon-Bron und läßt dich dort von der Luftwaffe
als Dolmetscher anstellen.“ — „Das geht so einfach?“ — „Aber ja!“
— „Und was ist meine Aufgabe?“ — „Schauen, wie die Stimmung
ist und trachten, an Anti-Nazi heranzukommen, Adressen von
Privatunterkünften verschaffen, denen wir unsere Schriften schi¬
cken können usw. usf.“ Traumziel wäre natürlich, eine Gruppe
zu bilden, Spionage ist nicht unsere Aufgabe. „Alle 14 Tage hast
du einen Treff (deutsches Wort für Rendezvous, ein Jargonwort
in der Illegalität). Das ist alles.“ Wenn man solche Dinge erzählt,
taucht gewöhnlich ein Journalist mit gezücktem Mikrophon auf
und fragt: „Was haben Sie da für ein Gefühl gehabt, als Sie diese
Weisung erhielten?“ Ja, was habe ich wirklich für Gefühle gehabt?
Zunächst einmal, ich kann ruhig — ohne mir oder anderen etwas
vorzumachen - sagen, daß ich keine Angst gehabt habe. Warum
auch? Ich bin ja schließlich nicht aus einem ruhigen Hinter¬
land an die Front geschickt worden. Ich dachte mir nur: Ob das
wirklich so einfach geht, wie die das sagen? Allein wäre ich nicht
auf so eine Idee gekommen. Andererseits befriedigte mich der
Gedanke, nicht mehr sozusagen von der Hand der Organisation
in den Mund zu leben, und allein auf mich gestellt zu sein, was
mir schon immer behagte. Und schließlich und endlich war man
in der Organisation der Meinung, durch den Umstand, daß die
deutsche Wehrmacht nun auch Südfrankreich besetzt hatte, wäre
man eigentlich nicht mehr richtig in einer Emigration. Na, und
so ein Geschäft in der Wehrmacht, wäre es vielleicht ein bißchen
eine Rückkehr, wenn auch durch ein zugegeben recht seltsames
Hintertürl?

Ich glaube, ich ließ mir zwei Tage Zeit, um mich sozusagen
technisch vorzubereiten. Also das mit dem Französisch, das ging.
Es war zwar kein elegantes Französisch, das ich da sprach, aber das
war in diesem Fall eigentlich kein Malheur. Da war die Sache mit
der deutschen Sprache eine viel schwierigere Geschichte. Es ging
darum, den österreichischen Akzent und gar österreichische Worte
zu unterdrücken. „Eh“ mußte abgeschafft werden. Statt Jänner
und Feber mußte es Januar und Februar heißen, statt Rauch¬
fangkehrer Schornsteinfeger, statt Tischler Schreiner usw. usf.
Erst in so einer Situation wird es einem bewusst, was es in dieser
Hinsicht alles gibt. Mein Verhalten: Ich bin ein Durchschnitts¬
franzose, der sich den Umstand zunutze macht, Deutsch sprechen
zu können, sich einen Job in der deutschen Wehrmacht sucht,
um zu vermeiden, durch den STO (Service du travail obligatoire
— Arbeitsdienstpflicht)'?' nach Deutschland geschickt zu werden.
Auf meinem Personalausweis, meinem einzigen Dokument, hatte
mich Sussmann zum Handelsangestellten ernannt. Ich beschloß,
„normalerweise“ in der Textilbranche tätig zu sein, damit weder
im Französischen noch im Deutschen meine technische Ignoranz
auffalle. Als Tipferl auf dem „i“, da ein Sauwetter herrschte, kaufte

ich mir das erste Mal in meinem Leben einen Regenschirm und

setzte einen Hut auf, was mir auch nur ein paar Mal im Laufe
meines Lebens passierte, um ja einen solid-bürgerlichen Eindruck
zu machen. So zog ich nun los als Textilkaufmann George Robert
Ziem, mein Nom de guerre, wie das die Franzosen im Widerstand
nannten. Jetzt stimmte dieser Ausdruck ja wirklich mit der Auf¬
gabe überein. Hinaus ging’s mit der Straßenbahn bis zur Endstelle
im Lyoner Vorort Bron, dann noch ein Stück des Weges zu Fuß
entlang der Ummauerung des Flugplatzes und schließlich war
ich beim Eingangstor.

Kriegsadjustierte Doppelposten standen davor. Ich wandte
mich an den einen, ich hätte gehört, daß man hier Dolmetscher
brauchte, ich würde mich um so eine Stelle bewerben. Der Pos¬
ten ging sofort zum Telefon und sagte mir dann, ich möge einen
Moment warten, der Technische Inspektor würde bald kommen.
Es dauerte wirklich nicht lange, und er „erschien“. Ein riesiger
Mensch in Offiziersuniform, mit seiner Dienstkappe maß er sicher
so gegen 2 m. Er reichte mir freundlich lächelnd die Hand, das
sei sehr schön, daß ich da arbeiten wolle, und hoffentlich laufe
ich nicht bald wieder davon, wie das schon andere gemacht hät¬
ten. Ich versicherte ihm, daß ich das bestimmt nicht tun würde.
Gerade, daß er mir nicht voller Begeisterung um den Hals ge¬
fallen wäre. Bei diesem Größenunterschied wäre dies technisch
allerdings kaum durchführbar gewesen. Wir gingen in das Büro
der Technischen Verwaltung, wo ich nun arbeiten würde. Auf
dem Weg fragte er mich, aus was für einer Branche ich sei. Wie
ich es beschlossen hatte, sagte ich ihm, aus der Textilbranche. So,
sagte er, er wäre auch aus der Textilbranche. „Oh je, oh je, das
kann noch was werden, da heißt es aufpassen“, war mein Ge¬
danke. Inzwischen waren wir im Büro eingelangt. Es tummelten
sich da ein paar deutsche Zivilbeamte herum, im Hintergrund
tippten zwei Mädchen auf Schreibmaschinen, es waren Mädel aus
unserer Gruppe. Daß mir das einen Auftrieb gab, kann man sich
vorstellen. Ich mußte meinen wunderschönen Personalausweis
vorlegen, sie schrieben sich fein säuberlich alle Daten ab, und dann
mußte ich noch einen Wisch unterschreiben, daß ich weder Jude
noch Verbrecher sei und ich war — provisorisch — aufgenommen.
Meine Leute hatten mir keinen Schmäh erzählt, einfacher hätte
es wirklich nicht gehen können. Per 1. Mai 1943 war ich fix
angestellt. Sie wollten während ein paar Wochen schen, ob ich
arbeitsmäßig entspreche oder hat vielleicht der Abwehrdienst'??
nachgeschaut, ob ein Ziem auf der Verdächtigenliste stand, ich
konnte es natürlich nicht wissen. Jedenfalls bekam ich einen mit
1. Mai datierten Arbeitsvertrag, in dem ich als Dolmetscher fran¬
zösischer Nationalität Angestellter der Technischen Verwaltung
der Dienststelle der Feldpostnummer L 33281 Luftgaupostamt
Paris wurde, mit dem Hakenkreuzadler im Rundstempel ver¬
sehen, damit alles seine Richtigkeit hatte. Mein Monatsgehalt von
3.500 Francs'?? war eigentlich recht beachtlich, sodaß Anni und
ich damit relativ gut durchkommen konnten. Wir suchten uns
nun eine halbwegs ordentliche Wohnung und fanden schließlich
eine, die uns für unsere Lage und unsere Zwecke ideal erschien.
Sie war in Bron, also in dem Vorort von Lyon, an dessen Rand
sich der Flugplatz befand. In diesem Häuserl, in einem relativ
süllen Winkel gelegen, waren nur zwei Wohnungen und in einem
Nebengebäude eine dritte. Wir bekamen die Wohnung im ersten
Stock, die im Parterre war schon belegt. Wir hätten eigentlich
zufrieden sein können. Doch begann unsere seltsame Existenz mit
einer traurigen Nachricht. Anni wurde von ihrer Mutter, die in
der Westschweiz lebte, vom Tode ihres Vaters im KZ Auschwitz
benachrichtigt. Dr. Heinrich Steinitz, der als Verteidiger von

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