wieder vor ähnlichen Problemen wie jetzt stehen werden, schützt,
in große Not zu geraten. Aber auch andere vitale Bereiche unse¬
rer Gesellschaft, die man bislang nur ein wenig gegossen hat,
sind auf diesem Wege zu schützen, auf dass sie nicht verdorren:
Kunst und Kultur. Wir brauchen in Zeiten traumatisierender
Erfahrungen im Ausland und im Inland, in Zeiten von Radika¬
lisierung, antisemitisch motivierten Verschwörungstheorien und
insgesamt wachsendem Antisemitismus Entschlackungszentralen.
Wir brauchen unsere gesellschaftlichen Entgiftungsorgane, die in
der Kunst und Kultur, in der Wissenschaft, im Journalismus und
in vielen weiteren Bereichen anzutreffen sind und die Menschen,
die diese Bereiche ausmachen, brauchen dringend Produktions¬
mittel und Existenzsicherheit. Sie brauchen Verantwortliche, die
Budgets, nicht voller Enge schnüren und die die Millionen mit
dem Brustton der Überzeugung proklamieren und sie nicht an
tausende Auflagen binden.
Menschenexperiment. Diesem Experiment, in dem wir uns derzeit
unweigerlich befinden, sind wir ausgesetzt aber nicht ausgeliefert.
SARS-CoV-2 ist Teil unserer Gesellschaft geworden. Aber wir
müssen uns kluge, mitverantwortliche Antworten überlegen und
uns abseits der uns gewohnten Trampelpfade bewegen. So zum
Beispiel, wie es großteils bereits gemacht wird, in diesen warmen
Monaten ins Freie ausweichen. Schulunterricht im Freien — der
bei Schlechtwetter entfällt andenken und umsetzen, wo es eben
möglich ist. Eltern weitreichend entlasten, so dass diese bei Un¬
terrichtsentfall nicht beständig zittern müssen. Es bedarf seitens
der Politik Empfehlungen Arbeitnehmer_innen, wo es möglich
ist, weiter von zu Hause aus arbeiten zu lassen. Arbeitgeber_in¬
nen, die Arbeitnehmer_innen viel Flexibilität in der Ortswahl
zugestehen für die Zeit bis zum Impfstoff. Eine Regierung, die
ein solches Arbeitgeber_innen-Verhalten honoriert und fördert.
Ausbau der Fernlehrekapazität an den Universitäten. Und viele
Überlegungen zu virtuellen Alternativen, zu Belüftungssystemen
und zu Reduktion von Super-Spreading-Events für die unver¬
meidbare Rückkehr in den Innenraum im Herbst.
Goltz oder der bissige Bleistift
Wien, Neapel, Berlin, Zürich, New York — der 1899 in Wien ge¬
borene Zeichner und Karikaturist Erich Gold hat an vielen Orten
für unterschiedliche Zeitschriften, Zeitungen, unter verschiedenen
Namen und Kürzeln, so Erich Gold, Erich Goltz, Erich Peters
gearbeitet, meist einfach nur mit „GOLTZ“, aber auch mit „GO,
EGO oder G“, signierend. Bedeutend und berühmt waren jene,
die er porträtierte.
Eigentlich sollte man GOLTZ kennen, behaupte ich nach
der Lektüre der von Hans Haider 2019 veröffentlichten „Erich
Gold-Goltz-Peters“-Biografie mitsamt Werkkatalog. Hans Haider,
ehemaliger Ressortleiter für Kultur sowie der Beilage „Spectrum“
der Zeitung „Die Presse“, hat es nicht bei Artikeln über „Erich
Gold-Goltz-Peters“, die er seit 2017 in seinem publizistischen
Umfeld veröffentlichte, belassen. Um den Künstler und sein Werk
in die Jetztzeit zu retten, publizierte er nun ein umfangreiches,
großformatiges Buch, welches einespannend zu lesende und detail¬
reich erzählte Biografie mitsamt einem bemerkenswerten Bildteil,
den man durchaus als Fundgrube bezeichnen kann, beinhaltet.
Schließlich müssen wir uns mit Nachdruck und Nachhaltig¬
keit der Befindlichkeit der Menschen zuwenden. Denn diese
darf ob all der Disziplinen-Rhetorik der glänzenden Herren, die
die Politik der letzten Monate dominiert haben, nicht vergessen
werden. Nebst Grundeinkommen und der Gewährleistung eines
menschenwürdigen Überlebens bis die Krise virologisch ausge¬
standen ist: bis ein Impfstoff auf dem Markt ist, braucht es ein
Bewusstsein, in was für eine Ausnahmesituation uns der Virus
alle gebracht hat, wie belastend diese Situation war, ist, und wahr¬
scheinlich noch werden wird, und, dass wir viel Unterstützung
benötigen, um diese — oft mit zwei Jahren angegebene - Zeit bis
zu einem ausgereiften Impfstoff zu bewältigen. Menschen, die
immer wieder marginalisiert werden, trifft die Krise besonders
hart. Auch auf psychischer Ebene ist Unterstützung gefordert.
Therapiebezuschussung muss weiter ausgebaut werden.
Der Tanz mit dem Tiger. Ein Tanz mit dem Tiger sei es. So hat
Christian Drosten der kommenden Zeit und ihren Anforderungen
eine Bildmetapher spendiert. Dieser Tanz kann nur gelingen,
wenn wir den Tiger immer im Auge behalten, wenn es eine Poli¬
tik des Hinschauens und der Gesamtverantwortung gibt anstatt
Verantwortung einfach an „das Selbst“ an die/den Einzelne_n zu
delegieren und sich so aus der Verantwortung zu nehmen. Ein
reines Menschenexperiment der breiten Öffnung - jetzt sind die
Spitalsbetten verfügbar, es ist Sommer, noch gibt es keine Grippe¬
welle mag als Annahmen zum Taktieren dazugehören - ist ein
demokratiepolitisch fragwürdiges Unternehmen und in dieser
Form zu verurteilen. Lu Xun prangerte 1918 in seinem „Tage¬
buch eines Verrückten“ (Kuangren riji) soziale Missstände an und
attestierte der Gesellschaft einen kannibalischen Charakter. Ein
experimentelles Vorgehen, das uns das Sterben Vieler riskieren
lässt, muss daran erinnern. Ein Experiment der Förderungen, der
finanziellen Umverteilung - zeitlich an die Krise geknüpft — wäre
ein Gegenentwurf, der jedenfalls eine größere Beweglichkeit im
Tanz mit dem Tiger sicherstellen und mitwirken könnte, eine
zweite Welle zu verhindern.
Wien, Mai 2020
Bis 2017, als Hans Haider sich für ihn in die Bresche warf, war
Erich Gold ein Vergessener. Einen Grund des Vergessen-, bzw.
des Ubersehenwerdens, sieht Hans Haider in GOLTZ? „volatiler
Identiät“, wegen der „sich seine drei Namen weder in den Samm¬
lungen des Leo-Baeck-Instituts noch in den stetig angewachsenen
Dokumentationen von Flucht und Vertreibung in der Opfer- und
Exilforschung“ finden.
Erich Gold fing 1924 als Zeichner bei der „Neuen Freie Presse“
an. 1925 lebte er in Neapel, wo er für die linksliberale Zeitung
„ll Mattino“ Alltagsszenen, u.a. die turbulente Eröffnung der
ersten U-Bahn Strecke der Stadt, festhielt. 1925 zog es ihn nach
Berlin, wo er zuerst für das „12 Uhr Blatt“ als der Zeichner für
alles arbeitete und anschießend für „Tempo“ das Weltgeschehen
und dessen AkteurInnen mit dem Stift festhielt, um dann 1932 zu
„Der Montag Morgen“ zu wechseln, wo er dezidiert antinazistische
Karikaturen publizierte.
Fasziniert hat mich, dass neben den unzähligen Karikaturen
auch nachgezeichnete Bühnenbilder entstanden, z.B. vonder von
Friedrich Kiesler organisierten Internationalen Theaterausstellung