OCR Output

Der israelische Jurist Chaim Cohn, auch Haim
H. Cohn (1911-2002) war einer von vier Söh¬
nen von Zeev Wilhelm Cohn, der als Prokurist
für das Bankhaus seines Schwagers Alexander
Carlebach in Hamburg arbeitete. Seine Mutter
Mirjam (1888 — 1962) war eines von zwölf Kin¬
dern von Salomon Carlebach (1845 — 1919),
dem Rabbiner der jüdischen Gemeinde des
Stadtstaates Lübeck und Mitglied ihrer Bür¬
gerschaft.

Cohn wanderte bereits 1930 mit seinem
Bruder Alexander nach Palästina aus, wo er an
der berühmten von Oberrabbiner Abraham
Isaac Kook gegründeten Jeschiwa in Jerusalem
studierte. In Jerusalem wurde er ein glühender
Zionist und hörte Vorlesungen an der Hebräi¬
schen Universität.

1932 ging er wieder nach Deutschland um
in Frankfurt am Main Rechtswissenschaften
zu studieren. Nach seiner Promotion kehrte er
nach Palästina zurück und eröffnete 1937 eine
Rechtsanwaltskanzlei in Jerusalem. In dieser
Zeit verlor er seinen Glauben an Gott und las
Spinoza, Nietzsche und Sigmund Freud.

1948 wurde Cohn israelischer Staatsanwalt,
1949 Generalstaatsanwalt und 1952 für eine
kurze Zeit Justizminister. Er lehrte an der He¬
bräischen Universität in Jerusalem und der
Universität Tel Aviv. Von 1960 bis 1981 war er
Richter am Obersten Gerichtshof. Er war der
erste Präsident der Association of Civil Rights
in Israel und vertrat seinen Staat vor der UNO
Menschenrechtskommission.

Der Oberste Gerichtshof erhielt zahlreiche
Petitionen für die Wiederaufnahme des Pro¬
zesses Jesu. Cohn interessierte sich sehr dafür

Jakob Haringer revisited

Verdienstvoll ist es, wenn ein Jakob-Haringer¬
Leser und -Liebhaber diesem grenzgenialen Ly¬
riker, begabten Essayisten, politisierenden Mar¬
chenerzähler, literarischen Polemiker, Verfasser
von vor „Pampigkeiten strotzende[n]“ (Wulf
Kirsten 1982) Pamphleten sowie fantasiebegab¬
ten Erfinder unzähliger alternativer Fakten (z.B.
was das Geburtsdatum, Publikationen, Verlage,
Preise, Aktivitäten betrifft) anlässlich der 120.
Wiederkehr seiner Geburt (1898 in Dresden)
und der 70. Wiederkehr seines Todes (1948 in
Köniz bei Bern) ein Buch widmet und damit
die Erinnerung an diesen „Außenseiter“ wach
hält. Aber was bringt das Buch Neues, bisher
Unbekanntes? Verändert es etwa die Perspektive
auf einen bisher unbekannten Haringer? Und
wie qualifiziert und positioniert es sich in der
Haringer-Forschung?

Dass sich Braegs Publikation einem poe¬
tisch äußerst begabten Menschen und - sagen
wir vornehm — einem schwierigen Kauz und
Zeitgenossen widmet, dessen innere Grundbe¬
findlichkeit verzweifelter Ausdruck des Haderns

86 _ ZWISCHENWELT

und setzte sich mit dieser Frage in einem Buch
auseinander, das 1968 auf Hebräisch erschien.
1997 publizierte der Jüdische Verlag die deut¬
sche Ausgabe, Der Prozeß und Tod Jesu aus jüdi¬
scher Sicht, übersetzt von Christian Wiese und
Hannah Liron. Cohn leistete mit diesem Buch
einen wichtigen Beitrag zum jüdisch-christli¬
chen Dialog. Er lernte, wie er in seiner Auto¬
biographie schreibt, die Lehre und Ethik Jesu
schätzen und „wurde gewahr, dass diese Lehre
geeignet und würdig war, in unsere mündliche
Lehre aufgenommen und integriert zu werden“.

Eines der Probleme des Staates, mit dem sich
Cohn auseinandersetzte, war die vieldiskutierte
Frage „Wer ist Jude“. In seiner Autobiographie
erinnert er sich daran, dass David Ben Guri¬
on, für dessen Persönlichkeit er „von Anfang
an höchsten Respekt“ empfand, 45 „Weisen
Israels“ diese Frage vorlegte. Er erwähnt aber
nicht, dass die Antworten (auch seine) 1970
in dem Buch Jewish Identity. Modern Responsa
and Opinions, herausgegeben von Baruch Litvin
und Sidney Hoenig, publiziert wurden. Die
Übersetzer, die den Text mit einigen Fußnoten
annotierten, haben leider ebenfalls nicht auf
dieses Buch verwiesen.

Während Cohn im ersten Teil seiner Frinne¬
rungen sehr persönlich und detailreich seine
Jugend beschreibt fehlen in den letzten Kapi¬
teln persönliche Passagen. Seine zweite Ehe mit
Michal Smoira-Cohn, der Tochter von Mosche
Smoira, dem ersten Präsidenten des Obersten
Gerichtshofs, wird weder in Cohns Erinnerun¬
gen noch in dem mehrseitigen Lebenslauf im
Anhang erwähnt. Die Musikwissenschafterin
Michal Smoira-Cohn (1926 — 2015) lehrte

mit der Welt ist, ist an sich erfreulich. Braegs In¬
teresse gilt einem Menschen, dem seine Zeit und
ihre das Subjekt einschrankenden Ordnungen,
Konventionen und Bésartigkeiten schlichtweg
ein verachtenswertes kleingeistiges Korsett dar¬
stellten und ihn oft aus konventionellen Bahnen
warfen. Seiner tatsächlich gelebten und zugleich
literarisierten Empörung und Verzweiflung setz¬
te er Beschwörungen der Schönheit, der Kunst
und eines unerreichbaren Glücks, eine rück¬
wärtsgewandte Sehnsucht nach einem Paradies
der Kindheit und Liebe entgegen. Haringer stellt
also geradezu ein Paradigma dessen dar, was
Alfred Döblin bereits 1925 als einen Typus der
Moderne bezeichnete — „Ein lyrischer Poet, ins
Heute verschlagen, ein beständig hintapsender
Träumer; der wirkliche, komplette, kranke, ver¬
ängstigte, psychopathische Romantiker. [...] Er
ist es, durch Geschick, Unglück, konstitutio¬
nell ... Haringer ergeht sich lässig, einfach, bis
zum Khnittelvers, bis zur Trivialität. Er ist bloß
Mensch, kein repräsentierender deutscher Dich¬
ter“. Hermann Hesse entdeckte in Haringer

an der Musikakademie in Tel Aviv, leitete die
Rubin Musikakademie in Jerusalem, die Mu¬
sikabteilung von Kol Israel und erhielt ein Eh¬
rendoktorat des Jewish Theological Seminary
in New York. Da Haim Cohn als „Kohen“
vom Stand der Priester abstammte, fiir den bis
heute besondere Gesetze gelten und Michal
Smoira eine geschiedene Frau war, durften sie
nach biblischem und rabbinischem Recht nicht
heiraten; sie schlossen daher 1966 in New York
nach zivilem Recht die Ehe.

Auch iiber seine drei Briider schreibt er nichts.
Esther Halberstadt, die Tochter von Moses Car¬
lebach, einem der Briider von Joseph Carlebach,
hat sie dagegen in ihrer Autobiographie kurz
beschrieben. Alexander wurde Architekt, Leo
(Jehuda) arbeitete als Erzieher im französischen
Untergrund und wurde in Auschwitz ermordet.
Der jüngste der Brüder, Schlomo, war israeli¬
scher Spion in Ägypten und Südamerika.

Es ist ein großes Verdienst des Verlags, die
intellektuelle Autobiographie dieses großen Ju¬
risten und Humanisten der deutschsprachigen
Offentlichkeit zugänglich gemacht zu haben.
Verabsäumt wurde allerdings die Überprüfung
der Schreibweise zweier Eigennamen: Michael
Comey statt Comay (S. 227), Malkiel Grin¬
wald statt Grunwald. Auch der Personenindex
ist nicht vollständig.

E.A.

Chaim Cohn: Aus meinem Leben. Autobiografie.
Aus dem Hebräischen von Eva-Maria Thimme
unter Mitarbeit von Jonathan Nieraad. Berlin:
Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2019. 422
S. € 28,80 (At)

1926 den „Dichter“ schlechthin: „dies arme
Sonntagskind in einer Welt ohne Sonntage [...].“

Seit Werner Amstads bahnbrechender, haupt¬
sächlich biographisch orientierter Freiburger
Dissertation aus dem Jahr 1966, in der, etwa
20 Jahre nach Haringers Tod im Schweizer Exil,
der Dichternachlass (Köniz/Bern) penibel genau
aufgearbeitet und alle relevanten Grundlagen für
ein aus Haringers Biographie resultierendes Ver¬
ständnis des riesigen literarischen Werkes gelegt
werden — „künstlerisch“ ist der Nachlass „nicht
bedeutend“, hielt Amstad fest —, weiß man über
Haringers Werdegang Bescheid. Und seitdem
in Friedemann Spickers nicht minder wichtigen
Analyse „Deutscher Wanderer-, Vagabunden¬
und Vagantenlyrik in den Jahren 1910-1933“
(1976) zum ersten Mal Grundlegendes über Ha¬
ringers Literarizität und deren Traditionen, seine
Geistigkeit und Haltung gesagt wurde, kennt
man auch - im Kern, wenn auch nicht in allen
Details — das Profil des Schriftstellers. Dieses
zu schärfen und nicht in Vergessenheit geraten
zu lassen, dazu haben auch viele herausragende