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sind keine erfundenen Gruselgeschichten, indische Zeitungen
berichten immer wieder darüber. Öffentliche Krankenhäuser sind
massiv überfordert, es fehlt an elementaren Hygienestandards. Die
Berichte von an Covid-19 Erkrankten oder ihren Angehörigen
bestätigen die durch die Privatisierung entstandene Kluft: Wäh¬
rend die einen vor einem „guten“ Krankenhaus vergeblich um
Aufnahme eines schwer erkrankten Angehörigen flchen, versuchen
andere Erkrankte zu fliehen, wenn sie in ein öffentliches Kran¬
kenhaus gebracht werden sollen. (Was auf das Gesundheitssystem
zutrifft, gilt auch für das Bildungswesen.) Am 24. März um acht
Uhr abends verhängte Modi überfallsartig den Lockdown über
das ganze Land, nur vier Stunden später trat dieser in Kraft und
die Polizei begann zu prügeln. Selbst Züge und Busse waren zu
Beginn eingestellt. Der Lockdown in Indien war einer der weltweit
striktesten — und abruptesten. Keinerlei Gespräche hatte es im
Vorfeld mit RepräsentantInnen des Gesundheitspersonals, des
Transportwesens, des informellen Sektors, der Straßenverkäufer¬
Innen, der Scavenger gegeben, „every solution is only police“, so
der knappe Kommentar einer Frau. Einige Tage vor dem Lock¬
down hatte der Premierminister Flugzeuge gen Himmel fliegen
lassen, die zur Einstimmung Blütenblätter streuten, während des
Lockdowns hob Modi die Moral der Bevölkerung mittels per Video
übertragener Yogaübungen. Modi ist ein passionierter Yoga-Fan,
er forderte 2014 vor der UN die Einführung eines internationa¬
len Yoga-Tages, Yoga sollte „nicht nur eine Leibesübung für uns
sein, sondern eine Methode, sich mit der Welt und der Natur zu
verbinden.“ (Welt, 10.11.2014). Eine der ersten Handlungen
von Modi nach seiner Amtseinführung 2014 war die Schaffung
eines Ministeriums für „AYUSH“ mit einem eigenen Minister
für Yoga. Die Abkürzung „AYUSH“ steht für Ayurveda, Yoga
und Naturheilkunde, Unani, Siddha und Homöopathie. Das
Ministerium hatte einen Maßnahmenkatalog verlautbaren lassen,
wie man sich vor dem Corona-Virus schützen könne, der zwar
die Ärzteschaft in Rage brachte, sich aber für Menschen eignet,
die nichts zum Essen haben: „Wer zum Beispiel drei Tage lang auf
leeren Magen eine homöopathische Dosis Arsen einnehme, könne
dadurch die Infektion vermeiden. Auch ein übel schmeckendes
Ingwerwasser und zwei Tropfen Sesamöl in jedes Nasenloch am
Morgen“ seien angeraten, wie am 13. Februar 2020 die Neue
Zürcher Zeitung in ihrem Artikel „Indische Quacksalberei in
Zeiten der Corona-Panik“ berichtete. Modi rief während des
Lockdown die Bevölkerung auf, als Zeichen der Verbunden¬
heit Kerzen und Öllampen zu entzünden. Ein Witz machte die
Runde: Ein kleines Kind, das mit einem Mann vor einer Kerze
sitzt, beide dürt, fragt: „Kann man das essen?“ Der Meister des
Spektakels schuf das Spektakel schlechthin, fasste es Arundhati
Roy zusammen, die in New Delhi lebt und mit jenen redete, die
aus der Stadt strömten. „Biblische Szenen“ spielten sich ab. Eine
schier unglaubliche Menschenmasse, Millionen Wanderarbeiter,
durstige, hungrige Männer, Frauen, weinende Kinder, eilten aus
den Städten und machten sich zu Fuß auf in ihre Hunderte und
Tausende Kilometer weit entfernten Dörfer, „die Karawane der
Elenden“, auf 15 bis 30 Millionen wird sie geschätzt. Genau das
Gegenteil dessen war eingetreten, was Modi mit Polizeigewalt
durchzusetzen gedachte. Millionen hatten mit dem Lockdown
automatisch ihre Schlaf- und Wohnstätte verloren, darunter die
Bauarbeiter auf den Baustellen, Hausangestellte, Putzfrauen und
Köchinnen. Vermieter jagten jene weg, die kein Einkommen mehr
hatten. Die allermeisten verfügten weder über Ersparnisse noch
über größere Essensvorräte, das kärgliche Einkommen reichte

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gerade von Tag zu Tag — wobei das für viele eine Mahlzeit pro
Tag bedeutet. Ein moslemischer Tischler sagte Arundhati Roy:
„Vielleicht hat niemand Modi, als er das entschieden hat, von
uns erzählt. Vielleicht weiß er nicht, dass es uns gibt.“ Erschöpfte
Menschen sanken am Wegesrand nieder, mindestens 200 starben.
Eine 26jährige Frau brachte unter einem Baum ihr Kind zur
Welt — da war sie noch immer 500 Kilometer von ihrem Dorf
entfernt. Manche Bundesstaaten schlossen ihre Grenzen und
schickten Ankommende wieder zurück. Wanderarbeiter wurden
mit Desinfektionsmittel „gegen Corona“ besprüht. Ein Video fand
seinen Weg in die Medien: Ein etwa zweijähriger Bub versucht
auf einem Bahnhof seine Mutter zu wecken, spielt mit der Decke,
mit der sie zugedeckt ist. Sie wacht nicht auf. Er zieht ein Ende
der Decke über seinen Kopf. Sie wacht nicht auf. Vier Tage war
sie in einem Zug unterwegs, ohne Essen, ohne Wasser. Sie wird
nicht mehr aufwachen. Die Eisenbahngesellschaft gibt an, die Frau
habe an einer Herzkreislauf-Vorerkrankung gelitten. (Ihe Tribune
2020). Ein Kleinkind starb in den Armen seiner Mutter. Sein Vater
erzählte einem Journalisten, sie hätten die Eisenbahnbediensteten
um Wasser angefleht - vergeblich. 63 Millionen InderInnen ha¬
ben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Es hatte 40 Grad
im Schatten. Tabaarak, ein eljähriger Bub, radelte seine blinde
Mutter und seinen Vater, der ein gebrochenes Bein hat, in einem
Fahrradanhänger in ihr Dorf: 600 Kilometer, neun Tage lang.

Und doch waren die aus den Städten Strömenden noch jene
Menschen, denen es etwas „besser“ ging, die eine Arbeit gehabt
hatten, deren Dorf, aus dem sie stammten, noch existierte. Zurück
blieben die völlig Mittellosen, Arbeitslosen, Obdachlosen, direkt
aus den Krankenhäusern auf die Straße gesetzten Krebskranken —
und Frauen in der Prostitution, eingesperrt in winzigen Zimmern,
ohne Frischluft, oft ohne Tageslicht, dicht gedrängt.

Im Mai, sechs (!) Wochen nach dem Lockdown, kündigte die
Regierung schließlich ein Nothilfeprogramm an: fünf Kilogramm
Getreide und ein Kilogramm Kichererbsen für jede gestrandete
Familie im Monat. Viel zu spät, viel zu wenig: In Indien erhalten
bedürftige Haushalte normalerweise - sofern sie eine Bezugskarte
vorweisen können — über das Public Distribution System (PDS)
pro Monat 35 Kilogramm Getreide, in der Regel Reis und Weizen,
zu einem symbolischen Preis. Das entspricht in etwa zwei Drittel
der benötigten monatlichen Getreidemenge für eine fünfköpfige
Familie. Laut Ruchira Gupta war genau dieses Ernährungspro¬
gramm für die Ärmsten während des Lockdowns „geschlossen“
worden. Was an Hilfe fehlte und fehlt, setzte es an Repressalien:
Polizisten sperrten Kinder, die während der nächtlichen totalen
Ausgangssperre gesichtet wurden, in Hundekäfige oder ließen sie
untertags zur Strafe in der prallen Sonne sitzen.

Die drei Männer, die sich jedenfalls zu Beginn der Pandemie
in Indien die Hände gereicht haben, stehen an der Spitze der drei
Länder mit den meisten Covid-19 Erkrankten. Indien verzeichnet
den schnellsten Zuwachs an Neuinfektionen weltweit. Ego groß,
Virus groß urteilte die renommierte Wirtschaftswissenschafterin
Jayati Ghosh über die drei Staatsmänner. (Gosh 2020). Noch im
August postete der Abgeordnete von Modis Partei BJP, Sukhbir
Singh Jaunapuria, ein Facebook-Video, das ihn in einem Schlamm¬
bad sitzend in ein Muschelhorn blasend zeigt, dies würde seine
Lungenkapazität erweitern und im Zusammenspiel mit der Nähe
zur Natur vor einer Corona-Infektion bewahren: „Gehe nach
draußen, werde nass im Regen, setze dich in den Dreck, arbeite
auf einem Bauernhof und blase in ein Muschelhorn. Man ge¬
winnt Immunität, wenn man diese Dinge tut.“ (Focus, 18.9.2020)