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werden in der Regel als Kanalräumer eingesetzt. Sind Kanäle
verstopft, müssen sie bis zum Hals hinein. Jedes Jahr sterben rund
600 Scavenger an giftigen Gasen oder ertrinken. Scavenger leiden
an samtlichen Hautkrankheiten und Asthma, Malaria grassiert.
Bezwada Wilson in einem Interview iiber die im Hinduismus
herrschenden Begriffe von „rein“ und „unrein“: „Everything is
messed up. People say we are unclean, but who has made us
unclean? We are cleaners; the person shitting in a dry latrine is
the dirty person.“

Die Kinder der Scavenger werden in der Schule gemieden.

Apne Aap bietet mit The Last Girl First dem schwächsten Glied in
der Kette Schutz. 2007 eröffnete Apne Aap eine Internatsschule
für Mädchen in Bihar, ein Meilenstein. The Last Girl definiert
Apne Aap so: „eine Person, die schwächer ist als der arme Mann
einer niedrigen Kaste, denn sie ist weiblich. Sie ist schwächer
als die Frau des armen Mannes einer niedrigen Kaste, denn sie
ist ein Mädchen und niemand respektiert ihre Wünsche oder
Rechte, möge es sich um den Wunsch handeln, nicht verheiratet
oder nicht prostituiert zu werden, anzuziehen, was sie anziehen
möchte, zu essen, wann sie essen möchte.“ (AAWW 2013-14,
Jahresbericht, S. 5). Ein indisches Mädchen hat ein gegenüber
Buben 50 Prozent höheres Risiko, in den ersten Lebensjahren zu
sterben: Mädchen werden von Geburt an vernachlässigt, erhal¬
ten weniger Essen, werden zu schweren Arbeiten herangezogen,
Väter weigern sich, für weibliche Kinder ärztliche Hilfe zu holen,
Mädchen kollabieren beim Wasserholen. In „Voices of Red Light
Despatch“, der von Frauen aus den Rotlichtvierteln für Frauen in
den Rotlichtvierteln herausgegebenen Zeitschrift von Apne Aap,
beschreibt Mumtaj, Mutter von drei Kindern, wie Vertreibungen
auch mitten in den Städten mit den gleichen Mitteln betrieben
werden wie gegen die Adivasi im ganzen Land: Schlägertrupps
prügeln auf die Ärmsten ein, sekundiert von der Polizei. Die Hüt¬
ten der Vertriebenen werden dem Erdboden gleichgemacht. Den
TagelöhnerInnen bleibt nur die Straße, die Kinder sind schutzlos.
Mädchen verschwinden. Vergewaltigte Mädchen werden tot im
Teich gefunden. Die Polizei unterlässt nicht nur jede Untersuchung
der Vorfälle, sie verweigert sogar die Anzeigen vermisster Kinder.
Es sind Kinder, deren Eltern vom Müllsammeln, Rikschaziehen,
Betteln leben. Gemeinsam mit anderen gelang Mumtaj die Rettung
von Mädchen, sie waren in „Tanzbars“ verschleppt worden. (Red
Light Despatch, Jänner 2013).

Eine der beeindruckendsten Frauen bei Apne Aap ist die Mit¬
dreißigerin Fatima Khatoon, Mutter von sechs Kindern. Mit
neun Jahren war sie folgendermaßen verheiratet worden: Ob sie
bei ihrer Schwiegermutter leben wolle? Sie stimmte zu — unter
der Bedingung, dass auch ihre Oma mitkommen dürfe. Im Haus
aber lebten auch andere Mädchen, auf „der anderen Seite“, mit
denen sie nicht reden durfte. Es graute ihr vor „ihrem“ Mann, der
rund dreimal älter war als sie. Sie entdeckte, dass die Mädchen,
herausgeputzt, abends rausgehen. Sie wollte das auch tun, wurde
ausgelacht, ließ nicht locker, wurde geschimpft. Wenn aber die
Mädchen wiederkamen und essen durften, hörte sie sie weinen.
„Living in that house used to feel like somebody is grabbing my
soul out of me“, sagte sie über ihre Zeit dort. (Gupta 2017). Sie
brach das Verbot und begann, wann immer sich die Gelegenheit
bot, mit ihnen zu reden. Mit elf Jahren wusste sie, was Prostitution
ist. Neugierde hatte sie angetrieben. Mitgefühl trieb sie weiter.
Als eines Tages ihre gesamte Familie zu einer Hochzeit aufbrach,
befreite sie die prostituierten Frauen. Fatima wurde bestraft, drei

26 _ ZWISCHENWELT

Tage ohne Wasser und Brot eingesperrt. Sie hörte nicht auf. 2005
schloss sich Fatima Apne Aap an und schuf in Forbesganj in
Bihar eine Apne Aap Basis. Sie möchte ein Schutzhaus für äl¬
tere Frauen aus der Prostitution aufbauen, die keiner mehr will
und die kein Wohin und Zurück haben. Ihre eigenen Töchter
wurden immer wieder von Menschenhändlern bedroht, die sie
daran hindern wollten, zur Schule zu gehen. 2012 konnte sich
Fatima von ihrem Mann scheiden lassen. Ihre Familie aus der
Nutt Kaste versteht bis heute nicht, was über sie gekommen ist:
„Schon immer“ (also zumindest seit der Kolonialisierung durch
die Briten) sei Prostitution ihr Lebensunterhalt gewesen — das
heißt, die chemals nomadischen, zwangsweise sesshaft gemachten
Männer schickten ihre Frauen und Töchter in die Prostitution.
Dass ihre Familie sie nie verstanden habe, bedeutet für Fatima
einen doppelten Schmerz: „Ihey used to say that sex work is hap¬
pening on the other side ofthe house, why are you worried? You
shouldn’t meddle with such affairs. Also, that, it doesn’t happen
with you na? So let it happen with whoever it is happening with.“
Ihre Schwiegermutter besaß fünf aus Nepal und dem Grenzgebiet
zu Nepal gehandelte Mädchen, auch drei ihrer eigenen Töchter
schickte sie in die Prostitution. Zwei Jahre bevor Fatima Khatoon
am Last Girl First Kongress sprach, erhielt sie Todesdrohungen
von Menschenhändlern.

2013 waren Überlebende der Prostitution mit Hilfe von Apne
Aap maßgeblich an der Einführung des neuen Criminal Law
(Amendment) Act 2013 beteiligt, der nun Menschenhandel unter
Strafe stellt, alle Beteiligten, vom Händler über den Transporteur
über den Bordellbetreiber bis zum Kunden riskieren hohe Strafen.
Apne Aap sorgte dafür, dass bereits 2013 mehr als 70 Bordelle
geschlossen wurden. (Gupta 2013). Drei Millionen Frauen sind
in der Prostitution gefangen, ein Drittel davon sind Mädchen,
die meisten im Alter zwischen neun und dreizehn Jahren. Die
Vorstöße der Sexindustrie zur Liberalisierung nach deutschem
und niederländischem Vorbild parierte Amarjeet Kaur, die Sekre¬
tärin des All India Trade Union Congress (AITUC), dem ältesten
indischen Gewerkschaftsbund, am Last Girl First Congress mit
diesen Worten: „Nur über meine Leiche.“ Ruchira Gupta wird in
ihren Reden nicht müde zu betonen, wie sehr sich die Geschichte
wiederholt: Immer, wenn ein Problem groß ist und einer mächtigen
Gruppe dient, wird es als natürlich und unabwendbar hingestellt.
Dies galt für die Sklaverei ebenso wie für den Kolonialismus.
Prostitution schädige nicht zuletzt die Männer selbst: „Männer
vergessen, wie erotisch eine sexuelle Beziehung auf Augenhöhe
sein kann.“ Zu den in die Prostitution verschleppten Mädchen
gehören die Adivasi aus Assam. Vor 150 Jahren wurden sie von
den Briten aus Zentralindien in die Teeplantagen nach Assam
gezwungen. Nach der Unabhängigkeit kamen die Plantagen in
Privatbesitz wie TATA und Jindal. Die selbst für indische Ver¬
hältnisse extrem niedrigen Löhne reichen nicht für Landkauf
außerhalb der Plantagen, um aber das Dach über dem Kopf —
eine Hütte in den Plantagen - behalten zu dürfen, müssen die
Adivasi Tee pflücken. Seit Jahren kämpfen sie für den Scheduled
Tribes Status, womit Landrechte verbunden sind. Die Regierung
verweigert dies mit dem Verweis, sie seien keine Indigene, sondern
„tea garden workers“ oder „tea tribes“. „Wie könne es sein, dass
jemandes Identität nach der durch die Kolonialmacht aufge¬
zwungenen Arbeit festgemacht wird?“, fragen die AktivistInnen
der Adivasi (Gauri Lankesh News 22.8.2020). Alleine zwischen
2007 und 2014 sind 9.500 Kinder verschwunden; die meisten
sind Kinder der „tea garden workers“. Menschenhändler wissen