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verstand die Mutter die haßerfüllte Menge, durch die sie als junges
Mädchen Spießruten gelaufen war.

Diese Szene sollte die Tochter über den Tod der Mutter hinaus
belasten. Sie fragt sich: „Mit welchem Recht gräbt die Tochter die
von ihrer Mutter panisch unter Verschluss gehaltene Periode aus
ihrem Leben wieder aus?“

Zum Unterschied von Ingrid Mattulka, die als Kind/Jugendliche
in Sippenhaftung verurteilt worden war, hatten die Amerikaner
mit Johanna Haarer eine überzeugte Nationalsozialistin in Haft,
die aus ihrer Überzeugung nach 1945 kein Hehl machte. Ihre
Ehrlichkeit habe ihr, so schreibt sie in ihren Erinnerungen, bei
der Besatzungsmacht cher Sympathien als Empörung eingetragen.
Als Ärztin mit fließenden Englischkenntnissen erwarb sie sich
bald eine Vertrauensstellung bei der Lagerverwaltung, assistierte
schlußendlich als ärztliche Hilfskraft und bei Operationen und
freundete sich mit einem amerikanischen Arzt an. Sie beschreibt
ihr Leben im Lager — wie übrigens alles andere in ihrem Leben
auch - als Erfolgsgeschichte. Gemessen an ihrer „Belastung“ war
die Bestrafung durch die amerikanische Besatzungsmacht milde
ausgefallen. Die Lagerhaft hatte jedoch für ihre Familie zuhause
katastrophale Auswirkungen. Ihre fünf Kinder waren in der Obhut
ihrer altersschwachen Eltern/Großeltern praktisch sich selbst über¬
lassen. Ihr Mann, der Lungenfacharzt Dr. Haarer, war beruflich viel
unterwegs. Er sollan Depressionen gelitten haben. Jedenfalls erwies
er sich als weniger robust als seine Frau. Er nahm sich während
ihres zweiten Lageraufenthalts das Leben.

Gertrud Haarer als jüngste unter ihren Geschwistern war von
dieser Periode der Verwahrlosung und Erschütterung in der Familie
am heftigsten betroffen. Von dem - vor ihrer Psychoanalyse — Feh¬
len jeglicher Erinnerung an diese Zeit erzählt sie übrigens auch in
einem auf YouTube abrufbaren Film, der nach dem Erscheinen
ihre Buches vom BR-TV gesendet wurde. (Gaby Dinsenbacher
für die Reihe „Lebenslinien“, 2017.

Schreibende Mütter

Wer geht in eine Therapie, wer nicht? Wer schreibt, wer nicht? Unter
ihren Geschwistern waren die beiden AutorInnen, wie es scheint,
die einzigen, die beides wagten. Auch die Pioniere der kritischen
Auseinandersetzung mit der verdrangten NS-Vergangenheit, Alex¬
ander und Margarete Mitscherlich, stellten sich bereits diese Fragen:

In welchem Milieu gedeiht eigentlich waches, hartnäckig bei der
Frage bleibendes kritisches Bewufsstein am besten? Verläuft die hierzu
nötige Aufwendung seelischer Energie ganz unabhängig von den Vor¬
giingen in der Ökologie, in der Umwelt, zu welcher dieses Bewufstsein
gehört? Das ist kaum zu erwarten, aber eine verbindliche Antwort
über die Zusammenhänge besitzen wir nicht, insbesondere, welche
Frustration stimulierend und welche entmutigend wirkt.

Am Milieu kann es bei der Frage, warum Gertrud Haarer und
Susanne Fritz sich darauf eingelassen haben, Licht in die familiare
Vergangenheit zu bringen und ihre Geschwister nicht, nicht gele¬
gen haben. Beide Mütter haben jedenfalls geschrieben. Wenn ich
nicht wüsste, daß die beiden Autorinnen Geschwister hatten, hätte
ich in dieser Tatsache eine Ermutigung gesehen. Ingrid Mattulke
schrieb zwei Tagebücher und aus der Gefangenschaft Briefe an ihre
Schwester. Johanna Haarer war professionelle Autorin.

Nach ihrer zweiten Hochzeit und anläßlich ihrer ersten Schwanger¬
schaft gehorchte Johanna Haarer dem nationalsozialistischen Ideal,
zugunsten Kind und Mann auf ihre Berufstätigkeit zu verzichten.
Und dies, nachdem sie um ihre Ausbildung zu ihrem Traumbe¬
ruf Ärztin wie eine Löwin gekämpft hatte. Als Nur-Mutter und
Nur-Hausfrau fiel ihr anscheinend schon bald die Decke auf den
Kopf. Zuerst nur als Zuverdienst zum Arzt-Gehalt ihres Mannes
gedacht, begann sie über ihre neu erworbene „Expertise“ als Mutter
über Säuglingspflege zu schreiben. Zunächst für die „Münchner
Neuesten Nachrichten“, später für „Die deutsche Frau“, eine
Beilage zum „Völkischen Beobachter“. Nach positivem Echo auf
ihre Artikel erschienen diese zu einem Buch unter dem Titel „Die
deutsche Mutter und ihre erstes Kind“ zusammengefasst. Mit
ihrer Interpretation der Mutter als Wesensbildnerin der jeweils
nächsten Generation im Sinn des Nationalsozialismus begeisterte
sie die professionelle NS-Propaganda. Dankbar sorgte diese für die
Verbreitung des Buches.

Ein Werk, wie jenes von Frau Dr. Haarer „Die deutsche Mutter
und ihre erstes Kind“, sei in jeder Dorfbücherei vorhanden, schrieb
die Deutsche Allgemeine Zeitung 1943. Bis Kriegsende wurden
600.000 Exemplare verkauft. Das Schreiben fiel Johanna Haarer
offenbar leicht. Ihre Werkliste umfasst bis zu ihrem Tod vierzehn
Titel, darunter das 1939 erschienene Kinderbuch: „Mutter erzähl‘
von Adolf Hitler. Ein Buch zum Vorlesen, Nacherzählen und
Selbstlesen für kleinere und größere Kinder“.

An sich wäre diese Karriere der Johanna Haarer Stoff für eine Real¬
Satire. Die bescheidene Ehefrau, die zugunsten der Familie aufihre
Berufstätigkeit verzichtet, schreibt ein Buch, das ein Bestseller wird.
Jedenfalls wurde ihr Schreibtisch zum Zentrum ihres häuslichen
Regiments. Ehemann und Kinder müssen sich mit der Zeit, die
neben dem Schreiben übrig bleibt, begnügen. Ihre Einkünfte
überstiegen bald und bei weitem die ihres Mannes. Familie Haarer
konnte sich ein großes Haus mit Garten in München kaufen. Man
speiste unter einem Ölgemälde von Adolf Hitler. Johanna Haarer
wurde zur Eminenz in Sachen NS-Erziehung, obwohl sie weder
Pädagogin noch Kinderärztin war, doch ihr Doktortitel verlich
ihren Auslassungen den Anstrich der Wissenschaftlichkeit.

Nach dem Krieg, nunmehr Alleinerzieherin, setzte Johanna
Haarer ihre publizistische Tätigkeit fort. Die Alliierten blieben
für sie „die Feindmächte“, die NS-Diktatur das „vielgeschmähte
Dritte Reich“, das organisatorisch Erstaunliches geleistet hatte usw.
Doch sie trat ihr Comeback vorsichtig an. Nach dem Beratungs¬
buch für Mütter, „Unsere Schulkinder“ (1949), schrieb sie drei
Strickbücher und einen Gesundheitsratgeber für Frauen, „Frau
sein und gesund bleiben“ (1950). Mit Büchern für „Ausländer“,
„Deutscher Alltag. Ein Gesprächsbuch für Ausländer“ (1959) und
„Die Welt des Arztes. Ein medizinisches Lesebuch für Ausländer“
beendete sie ihre publizistische Tätigkeit. Ihr einstiger Bestseller
„Die Mutter und ihr erstes Kind“ erschien in einer „völlig neu
bearbeiteten und erweiterten Auflage, 1222.-1231. Tausend der
Gesamtauflage“ noch einmal 1987 in München — ohne Hinweis
auf die Geschichte dieses Buches. Lang ist auch die Liste der
Publikationen, die sich mit Johanna Haarer, vor allem mit ihrem
Standardwerk zur „nationalsozialistischen Säuglingspflege“, aus¬
einandersetzen. Ihr Erfolgsgeheimnis war die „selbstgestrickte“
NS-Propaganda, hier bezogen aufden Umgang mit Kleinkindern,
in einem vertraulichen Ton. Nach dem klassischen Muster wird
zuerst ein Feindbild aufgebaut: Hier der Säugling als Tyrann.

Dezember 2020 29