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75-jährigen Vater im Auto, der diesen Bahnhof heute oder morgen zum vielleicht letzten Mal sehen wird. Vielleicht werde ich in zehn, zwanzig oder dreißig Jahren hierherkommen und mich daran erinnern, wie ich mit meinem Vater hier vor dem Bahnhof gestanden bin und ich werde mich an seine Rührung erinnern und er wird nicht mehr sein. Ich werde mich daran erinnern, dass ich ihn mir damals als jungen Mann hier vor diesem Bahnhof vorgestellt habe. Bielitz, meine „Vaterstadt“ und meine „Großelternstadt“ und meine „Iantenstadt“, ich habe schon als Kind immer von Dir gehört, habe mich in endlosen Geschichten meines Vaters mit Dir vertraut gemacht und jetzt — aus dem Fenster des Hotelzimmers kurz nach Mitternacht - sche ich eine gesichtslose Straße einer volksrepublikanischen Stadt mit den üblichen Fabriksschloten und der normalen Schäbigkeit. Doch hier hat all das etwas Aufregendes für mich. Vorhin, als ich vor einem alten Hotel im Auto gesessen bin und auf meinen Vater gewartet habe, habe ich in einen Saal dieses Hotels blicken können, da habe ich Personen tanzen gesehen nach einem etwas schnulzigen Discosound. Durch die hohen Fenster habe ich die mit Stoff verhangene Decke erblickt. Abgenutzte, aber sehr aufregende Romantik. Mein Vater kommt aus dem Hotel und ich sage ihm, ich möchte unbedingt in diesen Saal schauen. Er sagt, er würde mit mir gehen, es seien darin lauter betrunkene Männer. Man lässt uns aber nicht hinein. Danach draußen mein Vater: „Das war das eleganteste Cafe im Ort. Das Theatercafé. Hier haben wir uns am Sonntag immer zum ‚Five‘ getroffen.“ Mir fällt meine Tante ein, seine Schwester, die immer sagte, die heutige Jugend sei fad und blasiert. Immer schon wurde mir vom „Five“ berichtet und immer hatte ich sie beneidet. „Wir haben fast nichts gehabt“, hieß es immer, „aber das, was wir hatten, haben wir immer in vollen Zügen genossen.“ Verklärung oder Wahrheit — oder beides? Jetzt bin ich hier und stelle mir vor, wie aufgeregt wohl mein Vater ist. Fast hatte man uns aus der Stadt gewiesen. In dem alten Hotel, in dem mein Vater nachgefragt hatte, das Hotel mit dem Theatercafe, sagte man ihm, es sei in ganz Bielitz kein Zimmer zu haben. Wir sollen am besten nach Teschen, in die 30 km entfernte Grenzstadt zurückfahren. Um Mitternacht. Die Dame an der Rezeption erbarmte sich jedoch seiner und begann herumzutelefonieren und fand schließlich zwei Zimmer hier in diesem Hotel. Acht Stunden Fahrt, zwei Stunden Grenze, ein 75-jähriger Mann, ich mit meinen 32 Jahren erschöpfter als er. „Man sieht, was man weiß.“ Der Slogan des Reiseführers DuMont. Diese Stadt hat womöglich nur für mich Bedeutung. Es ist ja eine ganz normale Stadt in Polen. Am nächsten Tag schlendern wir durch die Straßen. „Hier hat die Hella gewohnt“. Wenn Papa von Hella spricht, blitzen seine Augen. „Wie lange warst Du mit Hella befreundet?“ „Seit der Matura, bis ich weggegangen bin.“ Also bis 28 denke ich, denn 1939 ist Papa zum Krieg eingezogen worden. Hella war eines von zehn oder elf Geschwistern und ist umgekommen. Wir gehen um das Haus herum. An der Seite führt ein Gässchen in Stiegen bergauf. Das Gässchen ist schief. „Dort oben, an dem Fenster, ist sie immer an einem Tisch gesessen und hat gestrickt. Ganz flink. Mir hat sie viele Pullover gestrickt. Hier bin ich gestanden und hab hinaufgeschaut. Ihre Mutter hat darüber immer geschimpft. Wie in „Resele“. Und wenn das Haustor zu war, ist sie ins Haus gekrochen, hier.“ Ich schaue in einen Abgrund, der zum Souterrain des Hauses führt. Oben, an der Gasse, ist ein Gitter. Wie man da hinuntersteigen kann, ist uns unbegreiflich, aber mein Vater sagt: „Sie hat es geschafft, ich weiß nicht wie, da unten die Tür war immer offen“. Ich stelle mir Vater vor, wie er dasteht und auf sie wartet, und werde ein bisschen neidig. Das verwinkelte Gässchen ist sehr romantisch, heimelig und die abgeblätterten Fassaden haben die Geschichte und die Geschichten besser gespeichert als die neu verputzten in Wien. Überhaupt — berührt mich hier alles. Auch die Menschen, die irgendwie Wärme ausstrahlen. Ich schäme mich dafür, dass mir diese Armut gefällt, dass ich sie ästhetischer finde als Reichtum, weil sie das Leben mehr durchlässt. Ich gehe dem Klischee „arm, aber glücklich“ auf dem Leim. Ich weiß, dass es nicht stimmt. Mir kommt vor, dass die Menschen sich hier nicht verkleiden können, sich nicht einwickeln können, und mir erscheinen sie so menschlicher. Weit und breit kein einziger Tourist. Wir gehen an der Kirche vorbei. „Hier war der Pfarrer B - man hat immer gesagt, der predigt nur. Er hat gesagt: ‚Höret nur auf meine Worte, schauet nicht auf meine Taten‘ — oder - ‚die Braut ist nicht schön, die Braut ist nicht reich, also ist es eine Liebesheirat.‘ Er hat sich alles erlauben können, er war eine Persönlichkeit.“ Bei Papa gibt es immer Leute, die sind Persönlichkeiten, von denen spricht er in bewunderndem Ton. „Hier hat der Jörgl gewohnt, hier war der Vater von Munju Oberkellner. Hier war die jüdische Volksschule, in die ich gegangen bin“. Ich hatte es mir viel dörflicher vorgestellt. Aber das hier ist eine Stadt, klein, aber doch eine Stadt. Wir fahren in die Kaiserstraße, die jetzt anders heißt, Kaiserstraße 43, da hat die Familie gewohnt, Ecke Annagasse. Das Haus hat noch immer die Nummer 43, es ist jedoch ein anderes. Ein kleiner Garten, ein hässliches Haus. Papa läutet an. Es kommt eine alte Frau an die Tür, sie hatte meiner Tante seinerzeit das Haus abgekauft. Sie fuchtelt mit einem Küchenmesser herum, die ganze Zeit, während sie spricht. Und sie redet laut auf meinen Vater ein, ich verstehe nichts. Ich sehe nur auf das Messer, das meinen Vater ständig zu kastrieren droht, denn sie hält es waagrecht. Sie bemerkt, dass ich Angst habe, aber legt es nicht weg, erst als ich sie darum ausdrücklich bitte. Sie ist sympathisch und zerstreut, und das Messer hat keine Bedeutung. Hier ist der Stall gestanden, sagt Papa. Und hier, da wurde ein Streifen an die Gemeinde abgetreten, das Grundstück war größer. Die meisten Häuser rundherum sind noch erhalten, doch das Haus meiner Großeltern ist zerstört worden. Wir gehen die Kaiserstraße hinunter, biegen ab, und mein Vater weist aufein anderes Haus. „Hier bin ich geboren, da im ersten Stock. Da war noch ein Vordach, da hat mich die Pepi einmal raufgesetzt, als sie auf mich aufpassen sollte. Die Mutter ist gekommen und hat mich da oben sitzen gesehen.“ Mein Vater läutet an. Lebensbrunngasse 4. Eine passende Adresse für einen Geburtsort. Vielleicht hat er darum den Krieg überlebt? Der polnische heutige Straßenname ist eine Übersetzung. Eine Frau öffnet. Mein Vater sagt, er sei hier geboren und möchte zum hinteren Haus durchgehen. Eine Deutsche. Sie bittet uns in ihre Wohnung, diese ist bescheiden, aber schr gemütlich. Niedrige Zimmer. Ein Kasten voll deutscher Literatur, deutsche Klassiker, ein Flügel. Sie spricht dasselbe Deutsch, das auch mein Vater spricht, genannt Biclitzerisch. Er: „Sie sprechen aber auch Polnisch.“ Sie: „Muss man wohl.“ Wir gehen in den Hof, zum Haus, in dem mein Vater geboren ist. Die Tür ist offen. Man sieht die Holzstiege, und darauf, auf Dezember 2020 3/7