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Meine Schwester kommt zu spät, wie eigentlich meistens. Sie betritt rund zwanzig Minuten nach mir das Cafe. Ein schweifender Blick durch den Raum, ein Winken, als sie mich entdeckt. Dann steuert sie auch schon mit einem entschuldigenden Lächeln auf den Lippen meinen Tisch an. Eine Umarmung, das obligatorische Bussi links, rechts. Dann sitzt meine Schwester mir gegenüber, ihr Gesicht nur ein paar Zentimeter von meinem entfernt. Innerlich krampft sich in mir etwas zusammen. Ich verspüre einen Druck in der Magengegend, wie vor einer Prüfung. Fehlt nur noch, dass meine Verdauung völlig entgleist. Kurzer 180 Grad Schwenk durchs Cafe. Gut, ich kann das WC-Schild von hier aus sehen. Nur für den Notfall. Ich versuche, mich zu beruhigen. Sogar mein Kiefer ist total angespannt. Ich probiere ihn zu lockern, meine Gesichtszüge zu glätten und hebe schließlich meine Mundwinkel leicht an. Alles ganz natürlich. Hoffe ich zumindest. Meine Schwester merkt sonst immer sofort, wenn mit mir etwas nicht stimmt. Doch im Moment ist sie viel zu sehr in die Karte vertieft. Sie scheint nichts bemerkt zu haben. Erst als sie die Hand hebt, um den Kellner zu rufen und eine heiße Schokolade zu ordern, schaut sie auf. Auch das ist typisch für meine Schwester. Zuerst studiert sie minutenlang jedes Getränk auf der Karte, um dann das Gleiche wie immer zu bestellen. Wir reden über dies und das. Aber nicht über das, worüber ich eigentlich reden will beziehungsweise muss, aber nicht kann. Da war diese mehrwöchige Geschäftsreise meiner Schwester, diese Firmenfeier letzten Freitag, dieser Kummer wegen meinem Exfreund, diese kostenlosen Getränke, diese paar Gläser zu viel. Da war X, der Freund meiner Schwester, der mich in meinem Zustand nicht alleine nach Hause gehen lassen wollte, obwohl er selbst nicht mehr ganz nüchtern war. X, der Freund meiner Schwester, der in der gleichen Firma arbeitet wie ich und so vor ein paar Jahren durch mich meine Schwester kennengelernt hat. Da war dieses eine gute Gespräch, dieses eine Gefühl, dieser eine zu intensive Blick, dieser kurze Moment der Schwäche und alles was daraus resultierte. Jetzt ist da dieses fürchterlich schlechte Gewissen, das mich innerlich auffrisst, dieser Hass auf mich selbst, weil ich die Kontrolle verloren habe. Ich, die ich sie eigentlich nie verliere. Und da ist diese Angst. Die Angst davor, dass das, was geschehen ist, was Lisa Grimm Narretei Durch das Loch in der Tasche rieseln die Kiesel verschüttet nach nur ein paar Wochen zerschlissen ich irre den Steinen nach sie liegen spiral-frömmig um mich zu täuschen das Entkommen Nachtasten einen nach dem anderen aufheben bis die Leerstelle blind werden lässt nicht mehr rückgängig zu machen ist, die Beziehung zu meiner Schwester maßgeblich verändern wird, dass sie mir nicht verzeihen wird können. Die Angst, dass mein Buch in ihrem Regal in den letzten Winkel, ins hinterste Eck verstellt wird oder dass sie es in den nächstbesten Altpapiercontainer wirft. Ich habe das Gefühl, es ihr sagen zu müssen. Mir die Schuld von der Seele reden zu müssen. Aber wie soll ich anfangen? Soll ich mich rechtfertigen? Soll ich die Vorgeschichte erzählen? Oder schlicht sagen: ich und X, wir haben... Meine Schwester wirkt inzwischen auch nervös. Fühlt sie meine Nervosität und spiegelt sie unbewusst? Sie wirkt anders als sonst. Unkonzentriert. Ihre Kameraaugen fokussieren sich immer auf etwas anderes, nur nicht auf mich. Sie folgen den Leuten, die das Cafe betreten, es verlassen, dem Kellner. Dann richten sie sich auf das Bücherregal, ganz so als würde sie die Titel studieren. Sie scheint mir nicht wirklich zuzuhören, unterbricht mich mitten im Satz, sich selbst in einer Erzählung und setzt bei einem anderen Thema wieder neu an. So kenne ich sie gar nicht. Wieso ist sie so durch den Wind? Weiß sie womöglich Bescheid? Mein Herz beginnt augenblicklich noch schneller zu pumpen. Ich muss das Gespräch endlich auf das lenken, worüber ich eigentlich sprechen will. Ich muss endlich loslegen, sonst wird mir das Herz noch aus der Brust springen. Doch ehe ich ansetzen kann, ergreift meine Schwester entschlossen das Wort. Dieses Mal wirkt sie fokussierter und schaut mich direkt an. „Ich hatte heute Vormittag einen Termin. Und dann war ich noch in der Buchhandlung. Deshalb war ich auch zu spät. Ich habe ein Buch für X gekauft, um ihn zu überraschen. Hier, schau es dir an.“ Sie schiebt mir ein Papiersackerl über den Tisch. Ich öffne es und hole den Inhalt heraus. Das Buch, sogar noch mit Preisschild, ist gänzlich in Plastik eingeschweißt, nur an einer Stelle hat die Schutzfolie einen kleinen Riss. Aufdem Cover steht: „Hallo Papa! Was werdende Väter wissen müssen.“ Ein Buch, ein Leben. Anna Weinkamer, geboren 1998 in Wien, aufgewachsen in Salzburg, derzeit Studium der Germanistik an der Paris Lodron Universität Salzburg, Gewinnerin des Wiener Jugend Literaturpreises 2015, veröffentlichte u.a. in „SALZ. Zeitschrift für Literatur“ und in ZW. das Wasser tropft läuft und macht, dass der Mond pfützenförmig leuchtet an seiner Sichel sich erhängen die Kieselsteine die man legt dort drüben nieder und ein Schrei zum Mond Der rund Uns narrt Irrst Du mich? Irre ich Narr Dezember 2020 47