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Editorial aus dem Tagebuch

Er heißt Artin. Artin Nezhad. Er hat sich einen schönen Platz
ausgesucht. Am 1. Jänner 2021 wurde er weit oben im Norden,
in Norwegen, am weißen Strand von Karmoy angespiilt. Jetzt
weiß man, wie er heißt. Vielleicht wurde er auf einer „Wanderung
auf den weißen Dünen“ entdeckt. Jetzt kann man ihn gene¬
tisch seinen Eltern und Geschwistern zuordnen, die im Oktober
2020 zusammen mit über 20 weiteren Personen (die genaue
Anzahl konnte nie festgestellt werden) beim Versuch, über den
Ärmelkanal nach England zu gelangen, ertrunken sind. Man
weiß also, wer er genetisch ist. Es gibt sogar ein Foto von ihm.
Braune Haare. Rundes Gesicht. Ganz wache dunkle Augen. Die
Mundwinkel optimistisch nach oben gezogen, als wäre er sich
ganz sicher, die richtige Wahl getroffen zu haben, ein Mensch zu
werden und eine liebenswerte Familie gefunden zu haben. Er trägt
ein weißes Baumwolleibchen, unter dem sich seine helle Haut
wohlgefühlt haben mag. Er hat auf dem Foto ein buntkariertes
Hemd an, nur so übergeschlagen, nicht zugeknöpft. Auch das
Hemd macht einen fröhlichen Eindruck. Er ist ein kurdisches
Kind und wurde fünfzehn Monate alt. Seine Eltern flohen vor
dem Hunger in den von Teheran wirtschaftlich vernachlässigten
ostkurdischen Gebieten im Iran. Die Eltern sollen 5.000 Euro
für die Überfahrt bezahlt haben. Dem Vater habe man gesagt,
er könne in England 100 Pfund im Tag verdienen.

Wie ist Artin Nezhad vom Ärmelkanal so weit in den Norden
gekommen? Hat ihn ein Wal zu retten versucht und ihn erst
wieder ausgespieen, da er schon tot war?

Der türkische Präsident Erdogan erklärt öffentlich (19. Mai 2021),
daß Terrorismus in der Natur der Israelis liege. „Sie sind Mörder,
töten Kinder, die fünf oder sechs Jahre alt sind. Sie sind erst
zufrieden, wenn sie ihr Blut aussagen.“

Man muß das schnell notieren, noch vor dem ersten halbherzigen
Dementi. Komme da keiner und sage, diese Wiederbelebung der
Ritualmordlegende, amalgamiert mit QAnon-Verschwörungsmy¬
then richte sich nicht gegen die Juden, nur gegen die Israelis, die
aber den größeren Teil der aufder Welt lebenden Juden darstellen.
Gewöhnlich werden solche Äußerungen damit beschönigt, dass
man kommentiert: Er meint das doch nicht im Ernst, er hetzt
damit nur seine Anhänger auf in Konkurrenz mit anderen De¬
magogen. Abgesehen davon, daß solche Hetze schlimm genug
ist und eine umgehende internationale Ächtung Erdogans nach
sich ziehen müsste, beschönigt sie das Verhalten Erdogans, indem
sie ihn als eine pragmatistisch über die rhetorischen Bausteine
seiner antisemitischen Hetze verfügende Persönlichkeit darstellt,
die bei anderer Gelegenheit auch einer anderen Meinung sein
könnte. Das aber ist eine moralisierende Beschönigung der Äu¬
Berungen Erdogans. Denn was er sagt, das glaubt er, denkt er,
ist er. Es ist diese alte zeitgenössische Beschönigung eines Adolf
Hitler, die die wüstesten Behauptungen aus seinem Mund als
Produkte eines gewissenlosen Pragmatismus interpretierte. Es
ist aber dieser Pragmatismus selbst das Verderblichste an dem
Vorgang. Es ist so auch als eine üble Geschichte anzuschen, daß
die Freiheitliche Partei unter dem Vorsitz Kickls noch weiter nach
rechts rückt. Ganz verfehlt wäre es, sich nun vergnügt die Hände
zu reiben, weil die Partei vorderhand ihre Koalitionsfähigkeit
eingebüßt hätte.

4 ZWISCHENWELT

1. April 2021. — Kein Aprilscherz, aber AutorInnenverbände
werden sich aufregen und die Sache vielleicht mit Recht als eine
billige Ablenkung oder Kompensation von in den letzten Jahren
erfolgten Einstellungen und Kürzungen von Literatursendungen
bezeichnen. Jedenfalls soll ab April 2021 Tag für Tag ein auser¬
wähltes klassisches Gedicht aus den letzten Jahrhunderten auf
den Bildschirmen erscheinen, wenn man die richtige Seite bei
Teletext finder und öffnet. In der Mitteilung werden auch neun
von 36 vorgesehenen DichterInnen erwähnt - alle deutschspra¬
chig. Natürlich kann sich mit den mir jetzt noch unbekannten
übrigen 27 noch alles ändern und der Eindruck, für den öster¬
reichischen Rundfunk existierten klassische Gedichte nur in
deutscher Sprache, erwiese sich als unzutreffend. (Kommen gleich
die ganz Klugen und behaupten, Gedichte könne man nur in der
Orginalsprache ohrenschmausen. Sie seien unübersetzbar; eine
Karikatur dieser Meinung bietet die kürzliche Debatte um die
Übersetzung des Gedichts einer dunkelhäutigen US-Amerika¬
nerin durch eine hellhäutige Niederländerin. Auch ein Beispiel,
wo antirassistischer Furor unmittelbar in blanken Rassismus
umschlägt oder, besser gesagt, die rassistische Grundlage dieses
Antirassismus zum Vorschein kommt.)

Wenn man die wahrhaft bestialischen Aussagen Friedrich Nietz¬
sches in seiner Einleitung zum „Antichrist“ nicht als das lesen
will, was sie sind, nämlich Verkündigung eines Zeitalters von
Krieg und Massenmord, wozu man in der Tat keine Moral be¬
nötigt, und wenn man dann jemanden, der auf ein moralisches
Urteil besteht, nachsagt, „moralinsauer“ zu sein, geschieht das
Eigenartige, daß der- oder diejenige, die sich auf Nietzsche als
den Befreier von moralischen Zwängen berufen, diesen als einen
jeder Gewalttätigkeit abholden, in einem Feldzug allenfalls als
Sanitäter dienenden feinnervigen, künstlerisch veranlagten, ge¬
nialischen Menschen vorstellen. Diesem Phantasiegebilde legen
sie die Worte Nietzsches in den Mund, und es ist ein einziger
Akt der Beschönigung, der Verlogenheit und des Verbergens der
eigenen, in der Enge der Prüderie hochgekochten barbarischen
Intentionen.

Die deutsche Soziologin Julia Bernstein erörtert in „Die Zeit“,
27.5.2021, die aktuellen Subjekte eines aggressiven Antisemitis¬
mus (ohne eine Relation zum passiven, delegativen Antisemitis¬
mus, der den durch Hitler geschaffenen Zustand mit oder ohne
Schuldgefühl hinnimmt, herzustellen) und muß dabei wiederholt
andeuten, daß Rechte und Rechtsextreme die große Mehrheit
der Antisemitismus praktizierenden Subjekte stellen, während
die Aufmerksamkeit für den linken Antisemitismus überwie¬
gend der Ablenkung von dieser Tatsache dient. Noch offen ist
die Frage des Antisemitismus junger Türken, Iraker, Syrer und
Nordafrikaner in Deutschland. Die Gefahr scheint mir hier, daß
der prononcierte Judenhaß zum Entréebillet zur deutschen oder
österreichischen Gemütlichkeit wird — man stelle sich nur eine
erheiterte Saunagesellschaft vor. Daß also eine anonymisieren¬
de Interferenz zwischen diesen sich zugleich anziehenden und
abstoßenden Polen entsteht. - Konstantin Kaiser